Amerika Dave Eggers erzählt in seinem Roman von der Irrfahrt einer Mutter mit zwei Kindern durch Alaska
: Eine Frau in der Wildnis

Eine Frau flüchtet vor der amerikanischen Zivilisation in die vermeintliche Wildnis und findet dabei wieder – Amerika Foto: Westend61/picture alliance

von Katharina Granzin

Wenn junge Menschen sich von ihrem bisherigen Leben verabschieden und allein in die Wildnis Alaskas aufbrechen, dann kann es schon mal passieren, dass sie ein falsches Kräutlein essen und in der Einsamkeit sterben. Berühmt wurde in dieser Hinsicht das tragische Schicksal des Christopher McCandless, von Jon Krakauer im Buch „Into the Wild“ und von Sean Penn im gleichnamigen Film verewigt. Und natürlich ist es die Folie jenes bekannten Aussteigerdramas, die verschwommen durch die Seiten von Dave Eggers’neuem Roman „Bis an die Grenze“ hindurchschimmert.

Auch in Eggers’ Roman geht es um eine Flucht vor den Zumutungen der amerikanischen Gesellschaft nach Alaska. Auch hier wird die Natur gleichermaßen als Befreiung wie als Bedrohung dargestellt. Auch hier bangt man als LeserIn ein ums andere Mal um die leibliche wie geistige Unversehrtheit der Protagonisten und befürchtet – das McCandless-Schicksal im Unbewussten parat – ihr vorzeitiges Ende. Grund genug gibt es dazu.

Doch die Geschichte, die Eggers auf dieser verborgenen Hintergrundfolie erzählt, ist durchaus anders gelagert. Das hängt nicht zuletzt damit zusammen, dass Eggers’ Hauptperson kein junger Mann, sondern eine gestandene Mutter von vierzig Jahren ist, die zwei Kinder im Schlepptau führt: Die Zahnärztin Josie hat als Folge eines Diagnosefehlers ihre Praxis in Ohio verloren. Außerdem will ihr geschiedener Mann, der vorher wenig Interesse an den beiden Kindern des Paars bekundet hatte, diese auf einmal nach Florida holen und der Familie seiner neuen Frau vorstellen.

Josie befürchtet das Schlimms­te. Daher hat sie beschlossen, mit dem achtjährigen Paul und der fünfjährigen Ana so weit wegzufahren wie möglich – wenn auch nur innerhalb der Vereinigten Staaten von Amerika, denn Ana hat keinen Pass. Schon in dieser äußeren Grundbedingung für Josies Flucht zeigt sich, dass ihren Möglichkeiten, aus dem normalen Leben auszuscheren, Grenzen gesetzt sind. Diese Beschränkung spiegelt sich auch im deutschen Titel des Romans (der im Original „Heroes of the Frontier“ heißt).

Es ist kein echtes Aussteigen, das Josie im Sinn hat, eher ein instinktives „Weg hier!“, das sie mit den Kindern nach Alaska treibt. Dort, in der Stadt Homer, wohnt ihre Quasistiefschwester Sam, mit der sie einen Teil ihrer Jugend bei derselben Pflegemutter verbracht hat. Doch obwohl die beiden Frauen sich viele Jahre nicht gesehen haben, hält Josie es nur wenige Tage aus bei Sam, deren Leben ihr im Vergleich zu ihrem eigenen allzu geglückt vorkommt.

Ohne sich zu verabschieden, packt sie die Kinder wieder in das schrottige Wohnmobil, das sie gemietet hat, und fährt weiter – ohne Plan und ohne Navi, und zunächst aus Versehen in die Nähe der Waldbrände, die in diesem Sommer überall in Alaska wüten. „Bis an die Grenze“ funktioniert nur deswegen so, wie es funktioniert, weil der Autor ein relativ un­rea­lis­ti­sches Element in Anspruch nimmt: das Fehlen aller modernen Kommunikations- und sonstigen elektronischen Medien. Josie hat kein Handy mitgenommen, aus Furcht, von ihrem Exmann geortet werden zu können; und im Wohnmobil gibt es kein Navigationsgerät sowie nur ein altersschwaches Radio, das kaum jemals funk­tio­niert. Da im Laufe des Romans allerdings immer deutlicher wird, dass Josie nicht frei von paranoiden Wahnvorstellungen ist, ist diese kuriose Abwesenheit aller Segnungen moderner Technik nicht unplausibel.

Die Reise von Mutter und Kindern kreuz und quer durch Alaska wird auf diese Weise zu einer Irrfahrt durch ein surreales Irgendwo – wenn nicht immer wieder sehr reale Elemente der amerikanischen Zivilisation sie einholen würden. Denn so wild und unendlich auch die Natur erscheinen mag, der nächste Supermarkt oder Wohnmobilpark kommt bestimmt. Und auf geradezu magische Weise tauchen immer dann, wenn Josie und die Kinder schon ganz und gar verloren scheinen, zuverlässig irgendwelche wohnfertig eingerichteten Holzhütten auf, in die Josie, weil nie jemand in der Nähe zu sein scheint, ohne große Skrupel einbricht.

Eggers bleibt sehr dicht an seiner Hauptfigur; mit Ausnahme winziger Passagen ist der Roman ausnahmslos aus Josies Perspektive – in dritter Person – erzählt. So tritt erst nach und nach zutage, was eigentlich mit dieser Frau los ist, die vor den Bedrohungen der amerikanischen Zivilisation in die vermeintliche Wildnis flüchtet und dabei doch nur wieder Amerika findet – einschließlich seiner Menschen, die zu treffen sich selbst in der relativen Einsamkeit Alaskas nicht vermeiden lässt.

Doch sobald sich nähere Bekanntschaften entspinnen, und erst recht, als Josie sich im alkoholinduzierten Entspannungszustand eine sexuelle Begegnung erlaubt hat, setzen sich altbekannte Mechanismen der Paranoia in Gang.

Dass Josies paranoide Grundeinstellung durchaus reale Ursachen hat, heißt nicht, dass sie nicht häufig überreagiert. Und so sehr man die meiste Zeit geneigt ist, das Angebot zur Identifikation mit der Hauptfigur anzunehmen, so oft möchte man gleichzeitig den Kopf schütteln über manche Szene, die sie hinlegt – ohne allerdings jemals ernsthaft um das Wohl der beiden Kinder zu fürchten; denn auch wenn Josie manchmal ein Gläschen Wein zu viel trinken mag, ist sie doch eine gute und aufmerksame Mutter. Und wohl weil diese kleine Familie einfach durch und durch sympathisch ist, hält ihr Autor jederzeit seine schützende Hand über sie, auch wenn es manchmal ganz schön knapp wird.

Was Dave Eggers nun eigentlich bezweckt hat mit diesem Roman, und ob er überhaupt eine Botschaft vermitteln wollte, bleibt unklar. Klar, eine ordentliche Portion Zivilisations- und Gesellschaftskritik steckt drin; doch gleichzeitig fungiert die Zivilisation/Gesellschaft in dieser Geschichte ein ums andere Mal als Retterin in der Not. Es ist letztlich dieselbe Ambivalenz, die der Roman auch seiner Hauptfigur entgegenbringt: sozusagen ein relativistischer Rea­lis­mus, den Dave Eggers ausbuchstabiert und in die Gestalt eines frauenverstehenden Roadmovie-Romans kleidet.

So ist sie, die Welt, this is America:Vieles daran kann einen wahnsinnig machen. Aber die wirklich Guten wird es nie kaputt kriegen. Das macht „Bis an die Grenze“ noch nicht zu einem patriotischen Roman. Aber er ist vielleicht auf dem Weg dorthin.

Dave Eggers:„Bis an die Grenze“. Deutsch von U. Wasel und K. Timmermann. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2017. 496 Seiten, 23 Euro