Überwachungssoftware für Geflüchtete: Der gläserne Flüchtling

Bremen, Hamburg und Schleswig-Holstein setzen bei der Unterbringung von Flüchtlingen auf eine Überwachungssoftware. Kritiker sehen massive Datenschutzverstöße

Wird in Bremen mit einem Lesegerät registriert: Das Betreten einer Unterkunft für Flüchtlinge Foto: dpa

BREMEN taz | Chipkarte einscannen beim Reingehen, Kontrolle beim Rausgehen, Protokollierung der Essensausgabe: Seit Monaten werden in Bremen, Schleswig-Holstein und Hamburg per Chipkarte und spezieller Software die Daten von Flüchtlingen in Erstaufnahmeeinrichtungen und Notunterkünften erfasst. Auch medizinische Checks, Verwandtschaftsverhältnisse, Religions- oder „Volks“-Zugehörigkeit – alles wird gespeichert.

Für den Bremer Flüchtlingsrat werden damit Datenschutzbestimmungen „rigoros unterwandert“. Er spricht von einer „flächendeckenden Kontrolle der Schutzsuchenden“. Auch Landesdatenschützer kritisieren das Vorgehen.

Tatsächlich bewirbt der Hersteller, die in Sachsen ansässige Cevisio GmbH, die technischen Möglichkeiten der Software mit einer aussagekräftigen Liste: „Zutrittskontrolle zum Camp“ samt „personenspezifischer Zugangs- oder Ausgangssperre“ sei möglich, heißt es in einem Prospekt auf der Website: Gespeichert werden könnten der „Status des Asylverfahrens“, „Al­lergien“ und „Behinderungen“ oder „alle Aktionen des Flüchtlings in der Unterkunft“. Auch „Familienstrukturen“ könnten „automatisch vervollständigt“ und ein „Familienoberhaupt“ erfasst werden.

Nach Auflage der Chipkarte könne den Flüchtlingen auch im Lesegerät individuelle Nachrichten angezeigt werden: „Vor Essensausgabe bei Einrichtungsleitung melden“, nennt die Firma als Beispiel. Oder „Bitte auf Diabetes untersuchen“.

Die Software ist laut Hersteller Cevisio im Zuge des Flüchtlingskrise 2015 „in enger Zusammenarbeit“ mit dem sächsischen Landesverband des Deutschen Roten Kreuzes entwickelt worden. Es würden „bereits mehr als 380.000 Flüchtlinge“ mit der Software „verwaltet“, heißt es im Prospekt, und das Programm würde bundesweit in über 280 Aufnahmeeinrichtungen eingesetzt.

In Schleswig-Holstein befindet sich das System laut einem Sprecher des Innenministeriums nach einer Erprobungsphase seit Jahresbeginn 2017 in allen vier Erstaufnahmeeinrichtungen „im Echtbetrieb“. Auch in Bremen sei es in allen Unterkünften seit Januar 2017 für die Träger verpflichtend im Einsatz, erklärte Bernd Schneider, Sprecher des Bremer Sozialressorts.

In beiden Ländern werden allerdings nicht alle Daten erfasst, die technisch möglich wären: Sehr wohl aber beispielsweise die Zugehörigkeit zu einem Familienverbund. Damit könne gewährleistet werden, „dass Familien räumlich nicht getrennt werden“, heißt es aus Schleswig-Holsteins Innenministerium. An medizinischen Daten werde nur dokumentiert, ob die gesetzlich vorgeschriebene Eingangsuntersuchung stattfand und etwa Impfungen durchgeführt wurden.

Bremer datenschutzbeauftragter

„Es muss sichergestellt werden, dass kein komplettes Bewegungsprofil erstellt wird“

In Bremen werden dabei nur Geh- und Sehbehinderungen erfasst. Diese Info sei wichtig, um für Gehbehinderte barrierefreie Räume zur Verfügung zustellen. Auch werde in Bremen die Religionszugehörigkeit „nicht regelhaft gespeichert, Einrichtungen haben aber die Möglichkeit und nutzen sie zum Teil“, so Schneider. Damit sollten „religiös begründete Spannungen von vorn herein vermieden werden“.

In Bremen werde das Betreten und Verlassen der Erstaufnahmen registriert. Dies solle sicherstellen, „dass bei eventuell nötigen Evakuierungen alle Anwesenden erfasst sind“. Durch die Anwesenheitskontrolle entstünden den Flüchtlinge keine Nachteile. „Allerdings: Wer nicht in Bremen lebt, hat auch keine Ansprüche auf Sozialleistungen“, so Schneider.

Die Daten werden nicht an Dritte weitergegeben und seien zunächst für fünf Tage gespeichert worden, was nach Rücksprache mit der Datenschutzbeauftragten auf drei Tage vermindert worden sei. „Dem gesamten System liegt ein umfassendes Datenschutzkonzept zugrunde“, erklärte der Sprecher des schleswig-holsteinischen Innenministeriums.

Bei diesem Konzept allerdings sehen die Landesdatenschutzbeauftragten in Schleswig-Holsteins und Bremen Nachholbedarf. In einem internen Papier aus dem Haus der Bremer Datenschutzbauftragten an die Sozialsenatorin heißt es bereits im Herbst 2016, als das System in manchen Unterkünften schon im Einsatz war: Es bestünden noch erhebliche datenschutzrechtliche Bedenken. Es müsse sichergestellt werden, dass kein komplettes Bewegungsprofil erstellt wird und keine lückenlose Überwachung stattfindet, da dies einen erheblichen Verstoß gegen das Persönlichkeitsrecht darstelle.

Für den Bremer Flüchtlingsrat ist der Fall klar: „Verwaltungstechnische Interessen dürfen keinesfalls einen derart umfassenden Eingriff in das Recht auf informationelle Selbstbestimmung rechtfertigen“, erklärte Sprecher Marc Millies. Er befürchtet einen Missbrauch der Daten. Es sei keinesfalls sichergestellt, dass etwa unbefugte Mitarbeitende Einblick in die Datensätze erhalten.

„Was passiert, wenn ausländische Geheimdienste ihr Interesse an den Datenbanken entdecken“, fragt Millies. Weil es entsprechende Regelungen zur Mitwirkungspflicht und Residenzpflicht im Asylgesetz gibt, hält er es für denkbar, dass künftig durch die Software dokumentierte Abwesenheit in der Unterkunft mit einer fehlenden Mitwirkung oder sogar einer „Rücknahme des Asylantrags“ gleichgesetzt werden könne.

Millies verweist die auf Mitte Mai vom Bundestag beschlossene weitere Verschärfung der Asylgesetzgebung. Diese erlaubt dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge Handydaten auszulesen. Die Flüchtlingsrechtsorganisation Pro Asyl kritisierte: „Das Gesetz schafft die rechtliche Grundlage für den gläsernen Flüchtling.“

Ein weiterer Schritt zur Ausweitung der Kontrollen von Flüchtlingen, wie sie bei Bundesbürgern undenkbar wäre. Besonders vor diesem Hintergrund hält Millies die Praxis in Bremer Unterkünften für inakzeptabel.

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