Theater in Brasilien: Der Papagei, der im Kochtopf landet

Das Theater in Brasilien ist politisch wach. Zwei Regisseure arbeiten mit Wolfram Lotz’ Drama „Die lächerliche Finsternis“.

Ein Mann mit roter Federboa

„Fora“ sagt der Papagei, gespielt von Mann mit Federboa, bei Alexandre Dill, „Temer“ antwortet das Publikum Foto: Pedro Mendes

„Fora Temer“, „Hau ab, Temer“, steht auf Parkbänken und an Häuserwänden in Porto Alegre gesprüht. Zuschauer rufen es in Theatervorstellungen hinein, sie schreiben es auf eine lange Papierrolle, die der Darsteller Dinho Lima Flor nach seinem Stück „Ledores do Breu“ (Vor­leser in der Dunkelheit) ausrollt.

In der Hauptstadt Brasília setzt Präsident Michel Temer, der vor einem Jahr die Sozialistin Dilma Rousseff mit fadenscheinigen Gründen aus dem Amt putschte, das Militär gegen Demonstranten ein, ist aber selbst tief in Korrup­tionsskandale verstrickt. Eine seiner ersten Aktio­nen bei Amtsantritt: Er wollte das Kulturministerium abschaffen, was unter Protesten verhindert wurde. Nun scheint seine eigene Absetzung nur noch eine Frage der Zeit, denn selbst das populistische Globo-TV, größtes brasilianisches Medienimperium, hat sich von ihm abgewandt.

„Fora“, sagt der „Papagei“, ein Schauspieler mit roter Federboa, in „Die lächerliche Finsternis“ von Wolfram Lotz am Ende einer Rede, in der er in der Inszenierung von Alexandre Dill reißerische Globo-TV-Nachrichten nachplappert, „Temer“, grollt es aus dem Publikum zurück. „Die lächerliche Finsternis“ von Wolfram Lotz ist eine Überschreibung von Joseph Conrads Kolonialisierungsgräuel-Weltroman „Herz der Finsternis“, aber auch eine Abrechnung mit dem deutschen Afghanistan-Kriegsein­satz und Klischees, die Deutsche von fernen Krisengebieten haben. Zugleich scheint der Text auch eine Reise in die innere Wildnis des neokolonialen, europäischen Ausbeuters.

Verheerungen der Globalisierung

Was macht dieser deutsche Theatertext mit Porto Alegre, der so europäisch wirkenden Hauptstadt von Brasilien südlichstem Bundesland Rio Grande do Sul, die dieser Tage von sintflutartigem Regen heimgesucht wurde? Gleich zweimal wurde das Stück beim Festival „Palco Giratório“ („Drehbühne“) inszeniert, das sich in zwölf Jahren zu einer der wichtigsten nationalen Vernetzungsplattformen entwickelt hat.

„Es ist vor allem ein Stück über die Verheerungen der Globalisierung, die in Brasilien wohl so offen zutage treten, wie kaum irgendwo anders“, erzählt Dill im „Gasometer“, seinem Probenraum: eine wunderschöne, ehemalige Fabrik direkt an der Süßwasserlagune. In wenigen Tagen wird sie zur Renovierung geschlossen, überall stehen rote Eimer, um das durch die Decke tropfende Regenwasser aufzufangen – Wiedereröffnung ungewiss. Auch hier an den Wänden überall Tags: Fora Temer.

Alexandre Dill gehört zu den jungen Regietalenten des Landes. Er war 2016 beim Internationalen Forum des Theater­treffens in Berlin zu Gast und hat auch schon Heiner Müllers „Medeamaterial“ oder Schimmelpfennigs „Arabische Nacht“ inszeniert. Seine Truppe „Grupojogo“ hat rund 15 Mitglieder und besteht seit zehn Jahren, sie halten sich mit Crowdfunding oder Geldern von Unternehmen, die so Steuern sparen können, über Wasser: rund 1.600 Real (ca. 400 Euro) erhalten sie monatlich.

Es zeigt sich, wie dringlich zurzeit politische Verhältnisse in der brasilianischen Theaterszene verhandelt werden

Initiiert und finanziert (mit jeweils 3.500 Euro) hat die Doppelinszenierung das Goethe-Institut Porto Alegre, das auch ein wichtiger Spielort des Festivals ist. Dass zwei Regisseure dasselbe Stück inszenieren, ist in ganz Brasilien laut Goethe-Instituts-Leiterin Marina Ludemann noch nie vorgekommen.

Dill verlegt den verfremdeten Dschungel-Hindukusch aus „Die lächerliche Finsternis“ in einen jener Standardcontainer, der auch vor der „Usina di Gasometro“ aufgebaut ist – das Symbol für Globalisierung schlechthin, das auch Flucht und Seepiraterie assoziiert. Heraus springt der somalische Pirat Ultimo Pussi, bei Dill allerdings ein Weißer und mit gefälschtem Adidas-Anzug als einer jener Straßenhändler zu erkennen, die auch auf Porto Alegres Straßen allgegenwärtig sind – und alles tun, um dabei auszusehen wie markenorientierte Mittelstand-Kids. Sein Eingangsmonolog ist anrührend und eindringlich, die Band an der Seite imitiert Schiffstuten und Möwengeschrei – bis er herrisch von Hauptfeldwebel Pellner verdrängt wird, der im Stück den durchgeknallten Deutinger aufspüren soll.

Bei Dill trägt Pellner Hitler-Frisur und Schnurrbart über nackter Kolonisatoren-Brust und er verweist deutlich auf den Faschisten Jair Bolsonaro, der offen gegen Schwarze und Homosexuelle hetzt und durchaus Chancen hätte, der nächste brasilianische Präsident zu werden.

Allein ausgehen? Besser nicht

„Wir tragen die Auswirkungen der Kolonialisierung in einer einzigen Gesellschaft aus, kaum irgendwo sind die Unterschiede zwischen Arm und Reich so groß wie hier“, sagt Dill. Das ist auch sichtbar in Porto Alegre: Auch, wenn das Bundesland „Rio del Grande Sur“ zu den wohlhabendsten Regionen zählt, liegen die Obdachlosen in langen Reihen unter durchnässten Pappkarton-Konstruktionen auf den Straßen der Stadt. Abends allein ausgehen kann man auch nicht. Vor ein paar Tagen sprangen wieder ein paar Bewaffnete aus dem Auto und wollten Theaterbesucherinnen vor dem Goethe-Institut überfallen, die auf ein Taxi warteten.

Lotz’ Stück liest sich in Dills Interpretation wie eine Analyse der inneren Ursachen von Armut in einem Land, in dem korrupte Milliardäre an der Macht taub sind für die alltäglichen Nöte der Bevölkerung – und zeigt, wie flexibel es sich exportieren lässt.

Dorothea Marcus ist auf Einladung des Goethe-Instituts nach Porto Allegre gereist.

Der preisgekrönte, rund zwanzig Jahre ältere Regisseur Camilo de Lélis ist es anders angegangen. Auch er hat eine Vorliebe für deutsche Stücke, hat schon Tankred Dorst, Achternbusch und Schimmelpfennig inszeniert. Den Titel hat er in „Im Schatten des Herzens“ verwandelt, zu Füßen der Zuschauer wurde ein Fluss aus Plastikmüll arrangiert, der somalische Pirat Ultimo wird von der schwarzen Schauspielerin Denizeli Cardoso zwischen Ölfässern gespielt, die mit warmer, voller Stimme zwischendurch auch mal die Afrika-Klischeehymne „The lion sleeps tonight“ anstimmt.

Debatte um die Darstellung

Das führt beim Publikumsgespräch ein paar Tage später zu einer leidenschaftlichen Debatte. Darf man das, den „armen Somalier“ von einer Schwarzen spielen lassen? Wird da nicht eine Zuschreibung von schwarz = arm bestätigt, die Wolfram Lotz in seinem Text bewusst hinterfragt? In Deutschland ist es noch nie mit einem Schwarzen besetzt worden.

Vieles ist in de Lélis’ Inszenierung überdeutlich, was dem mit ironisch-subtilen Querverweisen gesättigten Stück nicht gerade guttut. Denn einerseits kritisiert das Stück Ausbeutung – und andererseits karikiert es auch das Schwarz-Weiß-Denken darüber, die schlichten Opfer-Täter-Zuschreibungen zwischen Europa und „Entwicklungsländern“. Dem notgeilen Pastor etwa, dem Pellner und sein Adjutant Dorsch auf der Reise begegnen, setzt de Lélis schwarze, züngelnde Prostituierte vor, zum Teil als Frauen verkleidete Männer – als sei die Anspielung auf Sextourismus nicht auch im Text schon grell genug

Zum Schluss sitzt als Deutinger ein alter weißer Mann auf einem Dschungelthron, der zugleich ein WC ist. Seine Beschreibung einer Reise in den eigenen Anus, die in Lotz’ Text eine Erkundung des eigenen europäischen Schuldbewusstseins ist, wird so zugleich in die Lächerlichkeit entsorgt.

Der Fleischkonsum

Surreale Einfälle machen aber auch de Lélis’ Inszenierung spannend: Der Papagei, zugleich das Nationaltier Brasiliens, ist eine Vogel-Attrappe, die alsbald im Kochtopf landet, Dorsch und Pellner essen immerzu. „Ich will Bilder von Brasiliens Kolonisatorenschicht schaffen, die zeigen, wie sie sich selbst kannibalisiert“, erzählt Camilo de Lélis ein paar Tage später – und spielt darauf an, dass Brasilien den zweithöchsten Fleischkonsum der Welt hat und bekannt dafür ist, die eigene Umwelt zugrunde zu richten.

Wie dringlich zurzeit politische Verhältnisse in der brasilianischen Theaterszene verhandelt werden, zeigt sich auch an den anderen Festivaltagen. Im verstörenden wortlosen Stück „Bilder von allen“ der Gruppe „Pigmalião Escultura que Mexe“ aus Belo Horizonte stellt eine Puppen-Schweinefamilie Schnappschüsse voller Missbrauch und Gewalt nach.

In der urbanen Intervention „Engel in Ruinen“ klagt die Gruppe A Outra Companhia de Teatro aus Bahia lautstark an, was es bedeutet, den öffentlichen Raum nachts nicht mehr betreten zu können. Ein paar Meter weiter sitzen die Crack-Süchtigen unter der Brücke.

Die Autorin reiste auf Einladung des Goethe-Instituts Porto Alegre.

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