Utopie aus Oberschöneweide

POPDas Berliner Wave-/Postpunk-Duo Lea Porcelain verleiht auf dem Album „Hymns To The Night“ den frühen 1980ern eine gehörige Portion Wucht

Das Duo Lea Porcelain, nicht in Brandenburg Foto: Micki Rosi Richter

Los geht alles am Mainufer in Offenbach, 430 Kilometer entfernt von Berlin. Im Robert Johnson, dem mit Abstand berühmtesten Club der Rhein-Main-Region, laufen sich 2012 Produzent und DJ Julien Bracht und Gitarrist Markus Nikolaus über den Weg. Ersterer hat sich als Sven-Väth-Zögling in Technokreisen einen Namen gemacht, Letzterer kehrt gerade aus England und Irland nach Deutschland zurück, die Britishness mit im Gepäck.

Aus einer flüchtigen Bekanntschaft wird eine Freundschaft, wird eine Band: Zwei Jahre später gründen die beiden das Wave-/Postpunk-Duo Lea Porcelain, und wieder drei Jahre später, in diesem Frühjahr, erscheint das Debüt „Hymns To The Night“. Die beiden jungen Männer sind mittlerweile in Berlin gelandet, ihre Songs entstehen im Funkhaus Nalepastraße.

Bestens gelaunt sitzen Nikolaus und Bracht, Jahrgang 1989 und 1991, im Frühsommer im Büro ihres Labels Kobalt beim Interview. Es liegt in einer üppigen Etage im Schinkel-Pavillon, Blick auf die Schlossbaustelle.

„Vom ersten Song war eine Vision da“, sagt Bracht. „Ich habe direkt gemerkt, dass da etwas ist, das ich vorher beim Musikmachen nicht hatte.“ Entsprechend legte er seine Solokarriere vorerst auf Eis. „Wir sind nicht eine weitere Jam-Band, die im Keller vor sich hin probt. Wir haben knallharte Ziele mit der Band.“

Bis sie den passenden Ort gefunden hatten, um mit Lea Porcelain durchzustarten, sollte es ein bisschen dauern. Nikolaus und Bracht waren zwischen Frankfurt, London und Berlin unterwegs – in England feilten sie an Songs und opferten ihre gesamten Ersparnisse dem teuren Leben an der Themse. Der Grund, nach Berlin zu gehen, war nicht zuletzt das Funkhaus in Oberschöneweide mit seinen Proberäumen und Möglichkeiten.

Gefrierschrank-Gesang

„Out Is In“, die erste EP von 2016, ließ vermuten, dass die wuchtige Elektronik, die Bracht beisteuert, und die Indiegitarren-Schwermut von Nikolaus ein gutes Couple abgeben würden. Als Referenzen fallen einem vor allem die frühe Garde der New und Dark Wave wie Joy Division und Bauhaus ein. „Es gibt da schon Gemeinsamkeiten, zum Beispiel dieses Kalte und Düstere im Sound und die maschinellen Drumbeats“, erklärt Nikolaus, „aber wir kannten Joy Division eigentlich gar nicht so gut.“

Selbst der Song „Warsaw Street“ – Joy Division hießen zunächst „Warsaw“ – sei kein bewusster Bezug gewesen. „Warsaw Street“ sei schlicht ein Song über die Friedrichshainer Feiermeile – „und Warschauer Straße klang blöd“, so Nikolaus.

Der Retroverdacht liegt nahe – und ist dennoch nicht wirklich berechtigt. Das Tempo und der Gefrierschrank-Gesang mögen dieser Epoche entlehnt sein, aber die Klangflächen in Songs wie „Bones“ sind weiter und offener, nicht so minimalistisch. Außerdem gibt es mit der Ukulele in „A Year From Here“ und der Pianoballade „White Noise“ großartige Ausreißertracks. Hingegen sind Stücke wie „Endlessly“ zu nah an den frühen U2 oder Simple Minds – das braucht man nicht wirklich.

Die Haltung Lea Porcelains – der Bandname ist übrigens eher nach dem Zufallsprinzip entstanden – überzeugt. Bracht und Nikolaus spielen seit frühen Teenagerjahren in Bands, Nikolaus entdeckte Skaten und Punk – und Bracht die Clubsounds, als er mit seiner Familie in Spanien lebte. Diese Prägung klingt durch. Nikolaus: „Bei unserer Musik geht es auch darum, den Leuten ein bestimmtes Gefühl von einem Leben zu geben – von einem Leben, wie es sein könnte. Wir wollen eine Utopie, eine Hoffnung vermitteln.“ Die Hoffnung, sie stirbt zuletzt in Oberschöneweide. Jens Uthoff

Lea Porcelain – „Hymns To The Night“ (Kobalt/Rough Trade)