Teutonische Gefühle

Kino Der heilige Ernst der Deutschenwar eine der liebsten Zielscheiben des tschechischen Regisseurs Zbyněk Brynych

Sittengemälden der BRD: „Die Weibchen“ (1970) mit Uschi Glas in der Hauptrolle Foto: DIF

von Christoph Draxtra

Er glaube, dass das Kameraobjektiv intelligenter sei, dass es tiefer in das Innere der Figuren blicken könne als das Auge, sagte der italienische Regisseur Vittorio Cottafavi 1969. Die Filme und Fernseharbeiten, die sein tschechischer Kollege Zbyněk Brynych um diese Zeit in der Bundesrepublik Deutschland inszenierte, scheinen der gleichen Idee beinahe mantraartig zu folgen. Der melancholisch mäandernde Coming-of-Age-Wachtraum „Oh Happy Day“ und die schrille Gesellschaftsdystopie „Engel, die ihre Flügel verbrennen“ (beide 1970 in München gedreht) erklären der üblichen Ordnung im Verhältnis zwischen Darstellern und Raum den formpsychologischen Krieg: Körper und Gesichter explodieren regelrecht in den anfänglich oft leeren und lauernd in der Unschärfe verharrenden Bildkader – enthemmt lachend, fragend, ängstlich oder begehrend. Häufig blicken sie unvermittelt auch direkt in die Kamera, ins Publikum, die Großaufnahme wird zum Spektakel.

Derartige Irritationen und Distanzverluste zwischen Leinwand und Kinosaal sind ebenso Weiterentwicklung wie Umkehrung der abstrakteren, monströsen Staffelungen, wie man sie etwa in dem Paranoia-Psychogramm „Der fünfte Reiter ist die Angst“ findet, in dem Brynych 1965 noch auf heimischem Boden unter den Argusaugen der Obrigkeit die zunehmende Schwere der gegenwärtigen sozialistischen Republik im stilisierten Blick auf die Zeit der deutschen Besatzung der ČSSR greifbar machte.

Der Achtungserfolg, den er mit diesem Film oder etwa auch seinem Holocaust-Drama „Transport aus dem Paradies“ (1962) und der düsteren Groteske „Als Hitler den Krieg überlebte“ (1967) auf internationalen Filmfestivals errang, führte gegen Mitte, Ende 1960er Jahre zu glamourösen Angeboten aus Italien und den USA. Nach eigener Auskunft aus Angst vor Heimweh in der Ferne folgte Brynych 1968 stattdessen einem Ruf, in Deutschland – der Heimat seiner Mutter – für das ZDF Kafkas „Der Verschollene“ zu verfilmen. Ab diesem Zeitpunkt spaltet sich seine Karriere in zwei scheinbar diametrale Stränge: Nach drei seinerzeit von Publikum und Kritik weitgehend verschmähten, heute unter Cinephilen kultisch verehrten, psychedelischen Sittengemälden in der BRD – neben den beiden oben genannten zählt dazu noch „Die Weibchen“, ebenfalls 1970 und mit Uschi Glas in der Hauptrolle entstanden – wird er zum Pendler, inszeniert abwechselnd in Prag für Barrandov weiterhin Kinofilme und in München für den Produzenten Helmut Ringelmann unzählige Folgen für dessen langlebige Krimiserien „Der Kommissar“, „Derrick“, „Polizeiinspektion 1“ und „Der Alte“.

Brynych will seine Figuren nicht bändigen, nicht in den Griff bekommen

Letztere Krimis waren es, die in den frühen 1990er Jahren Brynychs Wiederentdeckung in Deutschland durch die Filme- und Kinomacher der „Kölner Gruppe“ einläuteten. Tatsächlich gelang dem Regisseur, was im heutigen Formatkorsett schwer vorstellbar wäre: Er transportierte die atmosphärischen Idiosynkrasien und den absurden Humor seiner Kinofilme auf den Fernsehbildschirm, ließ die graumelierten Kommissare selbstvergessen tanzen, Einbrecher übermütig durch ihre Tatorte marodieren, erschuf ein auf großen Sehnsüchten, klaffenden Abgründen und eitler Frivolität schwimmendes München. Und offenbarte immer wieder in jenen für ihn so charakteristischen, pointiert repetitiven Einsätzen feister Blas- und kitschiger Popmusik Momente des camp, der die Zuschauer vor dem heimischen Bildschirm mit einem bekifften Augenzwinkern an die Durchschau- und Manipulierbarkeit ihres teutonischen Gefühlslebens erinnerte, um sie zum Lachen über sich selbst zu bringen.

Der heilige Ernst der Deutschen war immer eine der liebsten Zielscheiben von Brynych, für den Selbstsicherheit und Neurose einander immer irgendwo zu bedingen scheinen. Angesprochen auf die häufigen Blicke seiner Figuren in den Spiegel sagte er 1994 in einem Interview: „Spiegel sind einfach faszinierend. Das hat damit zu tun, dass die Menschen einander selbst fremd sind.“ Der Psychologie seiner Inszenierungen und seines suggestiv-erzählerischen Ansatzes zum Trotz levelt Brynych jedoch stets mit seinen Figuren; er will sie nicht bändigen, nicht domestizieren, nicht in den Griff bekommen. Sie bleiben wild und bewahren Geheimnisse, die nur das Schlachtfeld Kino, nur wahlweise die Kommunikation oder der Kampf zwischen Film und Rezipient aus ihnen herauskitzeln kann.

Retrospektive Zbyněk Brynych: Zeughauskino, Unter den Linden 2, bis 30. 7., www.dhm.de