Das Recht verteidigen

POLEN Zehntausende demonstrieren für unabhängige Justiz

WARSCHAU taz | Es ist ihre erste Demonstration. Kurz vor Mitternacht skandieren Anna, Tomek und ihre Freunde vor dem hell erleuchteten Präsidentenpalast in Warschau: „Wir wollen ein Veto!“ und „Freie Gerichte!“ Alle fünf studieren Jura. Anna will einmal Richterin werden. Zusammen mit Zehntausenden Polen versucht sie, im letzten Augenblick die Gleichschaltung der Justiz zu verhindern.

Innerhalb weniger Tage hatte die nationalpopulistische Regierungspartei Recht und Gerechtigkeit (PiS) mit ihrer absoluten Mehrheit im Parlament ein Gesetzespaket durchgewunken, das Polens bislang unabhängige Richter dem Justizministerium unterstellt, so wie zuvor auch schon die Staatsanwälte.

„Der Präsident ist auch Jurist. Er hat in Krakau studiert“, sagt Anna verzweifelt. „Nur er kann mit einem Veto die Katastrophe noch aufhalten. Aber auch er ist ja ein PiS-Mann.“

Eine ältere Dame neben ihnen nickt: „Ich bin Polin“, sagt sie resolut. „Ich habe schon einmal für Polens Freiheit gekämpft. In den 70er und 80er Jahren. Heute würde ich den Jungen sagen: ‚Geht! Verlasst Polen. Meinen Segen habt ihr!‘ “ Anna und ­Piotr schauen sie zweifelnd an. „Ja, ja“, sagt die 73-Jährige und zeigt auf die Bühne: „Władysław Frasy­niuk hat schon in der Volksrepublik für seinen Widerstand im Gefängnis gesessen. Er und wir – wir werden das wieder in Ordnung bringen! Und dann könnt ihr zurückkommen.“

„Bloß kein Polexit!“

Jetzt bahnen sich Polizisten den Weg nach vorn zum Präsidentenpalast. Dort ruft Frasyniuk, der berühmte Bürgerrechtler aus Wrocław (Breslau), den Demonstranten zu: „Wir müssen die Gerichte verteidigen. Wir müssen die Richter verteidigen. Und deswegen werden wir jetzt – jetzt sofort – zum Obersten Gericht marschieren.“ Das Mikro trägt seine Stimme über die gesamte Krakauer Vorstadtstraße. „Und ab morgen werden wir jeden Tag diese Institution des Rechts verteidigen. Wir alle, alle Staatsbürger Polens, werden ab morgen den Rechtsstaat vor den Gerichten im ganzen Land verteidigen!“

Auf den Treppenstufen einer Kneipe sitzen Andrzej und seine Frau Izabella. Er ist Bankangestellter, sie Krankenschwester, beide Mitte 30 Jahre alt. „Woher dieser Mann seine Energie nimmt! Das ist unglaublich“, sagt Andrzej, starrt auf die hell erleuchtete Bühne und trinkt einen Schluck Cola. „Wir wollen nicht aus der EU gedrängt werden“, wiederholt sie einen Satz, der an diesem Abend immer wieder durch die Straßen Warschaus schallt. „Bloß kein Polexit!“ Andrzej wischt sich den Schweiß von der Stirn: „Wir sind immer noch zu wenig. Wenn die PiS auch die nächsten Wahlen gewinnt, was dann?“

Gabriele Lesser