Festgenommene Menschenrechtler: Türkei ordnet U-Haft an

Zehn Menschenrechtler kamen in der Türkei zu einem Workshop zusammen. Nun sind sechs davon wegen Terrorvorwürfen in Untersuchungshaft.

Andrew Gardner spricht

„Das ist ein Angriff auf die gesamte Menschenrechtsbewegung in der Türkei“, sagt Andrew Gardner von Amnesty International Foto: ap

ISTANBUL dpa | Die Prinzeninseln im Marmarameer vor der Küste Istanbuls sind ein angenehmer Rückzugsort von der Millionenmetropole. Dort sind keine Autos erlaubt, es lässt sich in Ruhe arbeiten. In einem Hotel auf Büyükada, der größten der Inseln, kamen kürzlich zehn Menschenrechtler zu einem Treffen zusammen, das Amnesty International als Routine-Workshop beschreibt. Doch am 5. Juli stürmte die türkische Polizei die Versammlung. In der Nacht zu Dienstag verhängte ein Richter in Istanbul nun Untersuchungshaft gegen sechs der zehn Menschenrechtler. Neben Amnesty-Landesdirektorin Idil Eser sind unter den Inhaftierten auch ein Deutscher und ein Schwede.

Seit dem Putschversuch in der Türkei vor einem Jahr wurden mehr als 50.000 Menschen in Untersuchungshaft gesperrt, die bis zu fünf Jahre dauern kann. Mehr als 150 Journalisten sitzen derzeit im Gefängnis, darunter der deutsch-türkische Welt-Korrespondent Deniz Yücel. Auch die deutsche Journalistin und Übersetzerin Mesale Tolu Corlu ist in U-Haft. Dass nun gleich sechs Menschenrechtler – darunter wieder ein Deutscher – bis zu einem Prozess hinter Gitter sollen, markiert eine neue Stufe im Vorgehen gegen angebliche Staatsfeinde.

„Das ist ein Angriff auf die gesamte Menschenrechtsbewegung in der Türkei“, sagt der Türkei-Experte von Amnesty International, Andrew Gardner, der Deutschen Presse-Agentur. „Das ist eine existenzielle Bedrohung der Menschenrechtsbewegung und von Amnesty International in der Türkei.“ Erst im Juni war der Amnesty-Landesvorsitzende Taner Kilic in Untersuchungshaft genommen worden. Ihm werden Verbindungen zur Bewegung des Predigers Fethullah Gülen vorgeworfen, den Präsident Recep Tayyip Erdogan für den Putschversuch verantwortlich macht.

Amnesty sprach im Zusammenhang mit der Inhaftierung von Kilic von einer „Justiz-Farce“, und ebenso verheerend fiel die Kritik an den Festnahmen der zehn Menschenrechtler vor knapp zwei Wochen aus. Vier von ihnen setzte der Haftrichter nun bis zu einem Prozess unter Auflagen auf freien Fuß. Sie dürfen das Land nicht verlassen und müssen sich dreimal die Woche bei den Behörden melden. Die anderen sechs müssen in Haft. Die Staatsanwaltschaft wirft allen zehn Beschuldigten nach Amnesty-Angaben vor, eine Terrororganisation unterstützt zu haben – um welche es sich handeln soll, blieb unklar.

Die Familie ist fassungslos

Schon unmittelbar nach den Festnahmen nannte der Generalsekretär von Amnesty International, Salil Shetty, Terrorvorwürfe gegen die zehn Menschenrechtler „unfassbar“. Shetty warf Erdogan vor, Kritik zum Verstummen bringen zu wollen. „In Erdogans Türkei soll es keine Zivilgesellschaft, keine Kritik und keine Rechenschaftspflicht geben.“

Ein Jahr nach seiner Verhängung ist der Ausnahmezustand in der Türkei um drei weitere Monate verlängert worden. Mit einem entsprechenden Beschluss folgte das Parlament in Ankara am Montag einem Antrag der Regierung, wie die amtliche Nachrichtenagentur Anadolu meldete. Der Ausnahmezustand war zunächst bis kommenden Mittwoch befristet. Unter dem Ausnahmezustand geht die Regierung von Präsident Recep Tayyip Erdogan mit großer Härte gegen mutmaßliche Putschisten, deren angebliche Anhänger und andere Kritiker vor. Mehr als 50.000 Menschen wurden seit dem Putschversuch festgenommen, mehr als 100.000 verloren ihren Job. (afp)

Erdogan rückte die Menschenrechtler dagegen in die Nähe der Putschisten vom 15. Juli 2016. Nach den Festnahmen sagte er beim G20-Gipfel in Hamburg, die Versammlung auf Büyükada habe in ihrem Charakter „einer Fortsetzung des 15. Juli“ entsprochen. Das ist ein gefährlicher Vorwurf: Bei den Feierlichkeiten ein Jahr nach der Niederschlagung des Putsches kündigte Erdogan am Wochenende an, Putschisten und anderen Verrätern werde man „die Köpfe abreißen“.

Die regierungsnahe Zeitung Star will mit Hilfe des AKP-Abgeordneten Orhan Deligöz sogar eine Verschwörung aufgedeckt haben, die einem Spionagethriller alle Ehre machen würde: In dem Hotel auf Büyükada hätten seit dem Putschversuch vier Versammlungen stattgefunden, sagt Deligöz nach Angaben des Blattes – darunter auch jenes Treffen der „sogenannten Menschenrechtsaktivisten“. Geleitet hätten die Versammlungen Agenten des US-Geheimdienstes CIA und des britischen Pendants MI6. Das Ziel: Ein Aufstand nach Art der Gezi-Proteste 2013.

Die Familie des inhaftierten Deutschen machen solche Vorwürfe fassungslos. Bei ihm handelt es sich um den Menschenrechtstrainer Peter Steudtner, der gemeinsam mit seiner Lebensgefährtin Magdalena Freudenschuss und zwei kleinen Kindern in Berlin lebt. „Peter hat sich stets für eine friedliche, gewaltfreie Lösung von Konflikten eingesetzt. Die Unterstellung, er könnte einen Putsch geplant haben, ist völlig absurd“, sagte Freudenschuss dem Spiegel. „Es macht uns Angst und es macht uns wütend, nicht zu wissen, wann Peter und die anderen Menschenrechtler entlassen werden.“

Amnesty und Erdogan

Auch bei Amnesty klingt es nicht, als hätten die Workshop-Teilnehmer einen Aufstand geplant. Demnach ging es bei dem Treffen um Menschenrechtsarbeit unter schwierigen Bedingungen – wie schwierig diese Bedingungen in der Türkei sind, wurde den Teilnehmern bei der Polizeirazzia vor Augen geführt. Auf dem Programm standen Themen wie Kommunikations- und Datensicherheit, aber auch Stressbewältigung und Yoga. Den Haftrichter beeindruckte das nicht. Die Türkei hat nun ein zweifelhaftes Alleinstellungsmerkmal: Es ist das erste Mal in der Geschichte von Amnesty, dass der Vorsitzende und die Direktorin der Organisation in einem Land gleichzeitig hinter Gittern sind.

Das entbehrt nicht einer gewissen Ironie: Als Erdogan 1999 – damals als Bürgermeister von Istanbul – wegen des Rezitierens eines Gedichts zu einer Gefängnisstrafe verurteilt wurde, setzte sich Amnesty International für seine Freiheit ein. Erdogan wischte diesen Hinweis kürzlich bei einer Pressekonferenz unwirsch beiseite – und verwies darauf, dass er damals ja trotz des Amnesty-Engagements inhaftiert wurde: „Das Resultat war, dass ich ins Gefängnis gekommen bin.“

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