Mehr lässt sich kaum aushalten

BÜHNE Die jüngsten zwei Premieren bei Tanz im August könnten gegensätzlicher nicht sein: Einmal werden Menschen zum Schweigen gebracht, einmal wird ihnen eine Stimme verliehen

Will die Geschichte des postrevolutionären Tunesien erzählen, erschöpft sich aber im dramatischen Gestus: Radhouane El Meddebs „Facing the sea, for tears to turn into laughter“ Foto: Abb.: Tanz Im August

von Astrid Kaminski

Wie ein sozialpolitisches Anliegen und die entsprechende Realität dahinter ein Bühnenstück lahmlegen oder unerträglich relevant machen können, das zeigten die aktuellsten zwei Premieren von Tanz im August, des größten deutschen Tanzfestivals, das inzwischen in der Halbzeit angekommen ist. Dass beide Produktionen eigentlich besser auf einem Musik-Performance-Festival als beim Tanz aufgehoben wären, stellt indes bei allem Crossover einmal mehr die Frage, wie sinnvoll es noch ist, Präsentationsformate nach Disziplinen zu ordnen.

In Hamburg hat mit dem „Internationalen Sommerfestival“ auf Kampnagel längst ein anderes Modell Schule gemacht, in Berlin wurde mit „Foreign Affairs“ ein entsprechender Versuch wieder eingestellt, derweil das Hickhack um das interdisziplinäre Konzept der Volksbühne zeigt, wie spartenverbissen die Hauptstadt weiterhin ist. Aber zurück zu Tanz im August – wobei sich der Umweg über Hamburg lohnt: Mehrere der Festivalbeiträge spielen auch dort, und die etwas großzügigeren Programminfos gibt’s zum Download.

Verjazztes Piano

Mit dem Hintergrundwissen, dass es sich in Radhouane El Meddebs „Facing the sea, for tears to turn into laughter“ um einen ziemlichen Promi-Cast aus der tunesischen Kunstszene handelt, lässt sich dann immerhin mutmaßen, dass der Choreograf, der seit zwanzig Jahren in Frankreich lebt, hier Berühmtheit für sich sprechen lässt. Sechs der acht Performer*innen wirken eher, als hätten sie einen Gastauftritt zu absolvieren. Den anderen zwei gehört – zwischen traditionell-tunesischem Gesang begleitet von relativ konventionell verjazzten Piano-Arrangements – jeweils eine Szene: Ein Mann windet sich plötzlich aus sich heraus, tänzerisch um sich schlagend, eine Frau wird verrückt, weil sie nicht weiß, ob vor oder zurück. Überspannte Gesten lassen sie wie ein animiertes Klappmesser auf einer Diagonalen hin- und herschnellen, bis sie schließlich ihre Kollegen in karikierende Siegerposen arrangiert. Dieses Geschehen setzt sich zwar überraschend vom Minimalismus des stoisch begangenen, sich kreuzenden Wegesystem der anderen Performer*innen ab, es erschöpft sich aber im dramatischen Gestus. Die angekündigte Geschichte des postrevolutionären Tunesien sowie die des Mittelmeers noch dazu, erzählt sich so nicht. Eher zeigt „Facing the sea …“ Menschen, die ein Anliegen mit sich herumtragen, das zu äußern ihnen vor allem das musikalisch-choreografische Arrangement nicht erlaubt.

Es erzählen Menschen, die unter den Folgen von Vergewaltigungen leiden

Dagegen lässt Dorothée Munyaneza, die für ihre Filmmusik zu „Hotel Rwanda“ bekannt wurde, in „Unwanted“ ihr Anliegen durch (allem Gefühl nach) dokumentarische Tonaufnahmen sprechen. Die Stimmen stammen von Menschen, die unter den Folgen von Vergewaltigungen während des ruandischen Genozids leiden, als Vergewaltigte oder als aus der Gewalt entstandene Kinder – von den Tätern zynisch „kleines Geschenk“ genannt. Die kurzen, ruhigen Berichte der Frauen, werden sparsam eingesetzt und gerade darum ist es umso unerträglicher, dass jeder Bericht eine neue Facette der Gewalt beinhaltet. Ein 15-jähriges Mädchen, vor dessen Augen die ganze Familie ermordet, deren Mutter lebend in Brand gesteckt und gleichzeitig durchschossen wurde, muss das Kind des Täters austragen – ein anderes Mädchen wurde zu oft vergewaltigt, um den Vater auszumachen – eines, das, selbst vergewaltigt, ansehen musste, wie Frauen und deren kleine Töchter gleichzeitig den Grausamkeiten ausgesetzt waren. „No apologies“, keine Entschuldigung und keine Entschuldung, singen Dorothée Munyaneza und Holland Andrews (unterstützt vom auf den Punkt präsenten Alain Mahé am Soundset).

„No apologies“, das ist das Wort der Ohnmacht, das auch auf dem Wellblechgemälde von Bruce Clark zu lesen ist, das auf der einen Seite eine nicht identifizierbare, männlich wirkende und auf der anderen Seite eine in sich verschlossene, weiblich wirkende Figur zeigt. Ein möglicher Hinweis darauf, dass Täter und Vergewaltigte im heutigen Ruanda teilweise Tür an Tür leben. Die Ohnmacht des Nichtentschuldbaren geht aber noch weiter: Sie lebt in den ungewollten Kindern der Gewalt. Kinder, die gehasst werden, geschlagen, die zurückhassen, zurückschlagen, von ihren Müttern verachtet und von den Täterfamilien gegen die Mütter aufgehetzt werden. Wenn sie ihr Kind stillte, sagt eine der Stimmen, dann in dem Gefühl, eine Hyäne zu säugen.

Munyaneza übersetzt die Originalsprache(n?) teilweise synchron ins Englische, teils steht der Tonfall der Sprechenden für sich. Hauptsächlich musikalische Rahmungen begleiten die Zeugenaussagen. Ein Klarinettensolo, das von vorsichtig gehaltenen Tönen in Geschrei ausbricht, Gesänge, die zwischen traditionellen Färbungen, Blues, Gospel, Renaissance und Death Metall changieren, ohne in einem Genre zu sich zu finden – bis am Ende eine der Zeitzeuginnen Zuflucht in einem einfachen Lied sucht und Munyaneza vom Rand der Bühne unterstützend, aber zurückhaltend mitsingt. Eine Geste, die das Prinzip der Rahmung, des Raumgebens, ebenso schön in ein Bild bringt, wie ein anderes es schafft, die traumatische Gewalterfahrung brutal in sich zu vereinen: Zwei große Mörser, traditionelle Küchen­utensilien, in deren Kelche die Performer*innen mit aller Kraft die starken Malmhölzer hineinstoßen. Mehr lässt sich kaum aushalten. Dass „Unwanted“ der Ohnmacht dieses Mehr mit großer Würde gewidmet ist, könnte zumindest einen kleinen Trost bedeuten. Vielleicht.