Deniz Yücel

Seit 200 Tagen sitzt Deniz Yücel in türkischer Haft. Noch immer ohne Anklage. Jetzt hat seine Frau einen Brief geschrieben

Erste Protestaktion für Autokorso-Fan Deniz, 19. 2. 2017 Foto: Florian Boillot

Ich bin’s, mach auf!

AnklageDilek Mayatürk Yücel schreibt über ihre Gefühle und von den Besuchen bei ihrem Mann, Deniz Yücel, der noch immer in Isolationshaft sitzt

von Dilek Mayatürk Yücel

Hast du ein bisschen Zeit? Dann will ich dir was erzählen.

Weißt du, was es heißt, deine Traurigkeit in einem Spind wegzuschließen?

Im Gefängnis gibt es Schließfächer für mitgeführte Gegenstände. Dort, wo Besucher registriert werden und ihre Besucherausweise erhalten. Handys, Schlüssel und Ähnliches muss man schon am Eingang abgeben. Die Schließfächer sind für Kleingeld, Uhren und so weiter. In dieses Fach lege ich immer eine Zigarette, die ich direkt nach dem Besuch rauche.

Das sind die sichtbaren Dinge. Aber es gibt auch unsichtbare Dinge, die ich hier wegschließen muss, bevor ich weitergehe. Meine Schlaflosigkeit, meine Müdigkeit, meine Krankheiten und meine Beklemmung schließe ich in diesen kleinen Spind ein, bevor ich Deniz besuche. Damit ich vor ihm ausgeruht wirke, selbst wenn ich die beiden Nächte zuvor nicht schlafen konnte. Dann hinterlasse ich meinen Fingerabdruck auf der Trennscheibe, die zwischen Deniz und mir steht und zwischen Deniz und der Freiheit, kehre nach Hause zurück und schlafe. Seit Monaten vergeht jeder meiner Montage auf diese Weise. Kannst du dich in meine Lage versetzen?


Seit 200 Tagen sitzt Deniz in Untersuchungshaft. Er wird isoliert und ist durchgehend allein. Isolation ist eine Form unmenschlicher Behandlung, die darauf angelegt ist, die körperliche und geistige Gesundheit eines Menschen langfristig zu ruinieren. Ein System, das entwickelt wurde, um den Menschen seiner eigenen Natur und der Außenwelt zu entfremden, bis er zerfällt. Dieses System hinterlässt beim Menschen nichts anderes als Zerstörung.

Ich interessiere mich nicht für deine politische Einstellung, deine Herkunft, deine Fußballmannschaft oder dein Lieblingsessen. Mir geht es nur darum, dass du ein Mensch bist. Deniz ist, unabhängig davon, ob er mein Mann oder ein Journalist ist, zunächst einmal ein Mensch. Du und ich kommen zusammen auf dieser Grundlage: dass wir Menschen sind. Isolation verstößt gegen unser Menschsein. Das weißt du doch, oder?

Menschen lesen Texte von Deniz: Die Schauspielerin Pegah Ferydoni im Festsaal Kreuzberg, 15. 3. 2017 Foto: Gregor Fischer/dpa

Das Ganze wird nicht dadurch glamouröser oder spannender, dass es sich bei einigen der Inhaftierten um Journalisten handelt. Dieser Umstand macht das Unrecht weder größer noch kleiner. In den Gefängnissen sitzen Tausende von Menschen, die mit ihrer Stimme zu niemandem durchdringen.

Zum Beispiel hast du sicher schon häufig von den Journalisten der türkischen Zeitung Cumhuriyet gehört, die im Gefängnis sitzen, nicht wahr? Vielleicht erinnerst du dich, dass sogar der Buchhalter der Cumhuriyet seit Monaten in Einzelhaft sitzt. Wir müssen aufhören, die Gefangenen nach Berufsgruppen zu klassifizieren. Wir alle sind Menschen, die vom Weltall aus gesehen nicht einmal die Größe einer Ameise haben. Die Freiheit bestimmter Menschen ist nicht wichtiger oder wertloser als die Freiheit anderer Menschen. Wir sind alle gleich.

Deniz’ Inhaftierung wurde begründet mit Artikeln, die er geschrieben hat, die aber laut Presserecht schon längst verjährt sind und nicht mehr als Grundlage der Strafverfolgung dienen dürfen; einige dieser Artikel sind von der Anklagebehörde sinnentstellend übersetzt worden.

Es geht um nichts anderes als um seine journalistische Tätigkeit. Noch immer liegt keine Anklageschrift vor, und es hat noch keine Gerichtsverhandlung stattgefunden. Doch längst schon ist Deniz zur Zielscheibe geworden, und in der Öffentlichkeit wurden wirklichkeitsfremde Anschuldigungen erhoben, die das Produkt einer regen Fantasie sind.

Ich möchte deine Erinnerung auffrischen: Deniz ist am 14. Februar aus freien Stücken zur Polizei gegangen, um eine Aussage zu machen. Er schreibt gern polemisch, er schreibt gern kantig und manchmal auch ein bisschen arrogant. Ja. Doch egal, ob man ihn mag oder nicht: Deniz ist ein Journalist. Er trägt ein riesiges, reines Herz in seiner Brust, eines von der Sorte, die vom Aussterben bedroht ist. Hör mich an!

Draußen gibt es Gedränge, draußen ist Lärm. Dabei bräuchte man all das Geschrei gar nicht. Deniz ist hier, er haut nirgendwohin ab, er fordert nichts weiter als ein faires Verfahren. Das könnte ohne Umstände stattfinden, ohne dass er in Haft sitzt.

Tag der Pressefreiheit: Demonstrantin vor dem Brandenburger Tor, 5. 3. 2017 Foto: Karsten Thielker

Ich bin’s, mach auf. Ich bin’s, ich wollte dir noch einmal sagen: Es ist jetzt 200 Tage her, dass die außergewöhnlichste Blume in meinem Garten rücksichtslos ausgerissen wurde.

Aber bei all dem Lärm höre ich nur einer Stimme zu: Das ist immer noch Deniz’ Lachen. Allen Widrigkeiten zum Trotz werden wir schön wie Blumen aus dieser Zeit hervorgehen.

Komm endlich raus aus deiner Höhle, bitte streck deinen Kopf an die Luft. Sei kein Gefangener der Schatten, glaub nicht nur dem, was dir gezeigt wird. Hör mich an.

Glaubst du, es sei einfach, 200 Tage im Knast zu verbringen?

Glaubst du, es sei einfach, 200 Tage draußen vor dem Knast zu verbringen?

Die ExkollegInnen von der taz bekunden ihre Solidarität beim Autokorso für Deniz Foto: taz

Es sind jetzt 200 Tage. Die Jahreszeiten ziehen vorbei, der Winter ist vorübergegangen, der Frühling und jetzt der Sommer. Hör mir zu.

Einem Menschen in Isolationshaft werden ganze Tage und Monate aus seinem Leben geraubt. Unrechtmäßig. Nur weil er seine Arbeit getan hat. Nur weil er Artikel geschrieben hat. Nur weil er Interviews geführt hat.

Eine psychische Last kann einen Menschen stärker erschöpfen und tiefer verwunden als eine physische Verletzung. Viel lieber hätte ich eine sichtbare Wunde an meinem Körper, als geistig an das Gefängnis von Silivri gekettet zu sein.

In Abwesenheit: Dilek Mayatürk Yücel nimmt für ihren Mann den Theodor-Wolff-Preis entgegen, 21. 6. 2017 Foto: Jens Kalaene/dpa

Bei jedem der einstündigen Treffen versuche ich, die potenziell schädlichen Auswirkungen der Isolation von Deniz fernzuhalten wie von einem Kind, auf dessen Wunde man pustet. Aus vollem Leib. Mit ganzem Atem.

Von jeder Institution, die den Begriff „Menschenrechte“ in ihrem Namen führt, erwarte ich einen professionelleren Atem als mein amateurhaftes Pusten.

Es sind 200 Tage. Ist dir das bewusst?

Aus dem Türkischen übersetzt von Oliver Kontny

Die vollständige Fassung finden Sie auf www.gazete.taz.de