Ausstellung zur Zeitschrift „Sibylle“: Kultivierte Randständigkeit

In Rüsselsheim hat die Schau „Sibylle – die Fotografen“ eröffnet. Die Zeitschrift war viel mehr als eine alltags-praktische Frauenzeitschrift.

Frau im Mantel vor einem Gebäude

Inszenierte Wirklichkeit: Die Zeitschrift „Sibylle“ zeigte modischen Nachkriegsglamour Foto: Arno Fischer, Berlin, 1962

Was für ein Flair! Gleich auf der ersten Doppelseite. Da fotografiert Günter Rössler 1967 zwei schlanke junge Frauen, die lässig in kurzen Kleidchen mit Hahnentrittmuster durch ein Straßencafé schlendern, in dem gut angezogene, attraktive Männer auffallen. Dann kommt das Inhaltsverzeichnis, und danach rahmt Arno Fischer 1963 das Mädchen im Plisseerock mit einer Bande cooler Motorradtypen in schwarzen Lederjacken und Schmalzlocken à la Elvis Presley ein.

So viel schicken Nachkriegsglamour in Großformat, so viel pure Fotografie in Form des scheinbar dokumentarischen Schnappschusses zeigt das Begleitbuch zur Sibylle-Ausstellung, die jetzt nach Rostock in den Opelvillen in Rüsselsheim Station macht, auf den nachfolgenden Seiten nicht mehr. Da konzentrieren sich seine Herausgeber, die langjährige Fotografin der Zeitschrift, Ute Mahler, und Uwe Neumann von der Kunsthalle Rostock sowie die Autoren Andreas Krase, Ulrich Ptak sowie taz-Redakteurin Anja Maier und taz-Autor Thomas Winkler, auf das Gesamtkonzept der Zeitschrift, die alles andere war als eine alltagspraktische Frauenzeitschrift im Sozialismus.

Denn nur so versteht man, wie die Zeitschrift, die alle zwei Monate in einer stets im Nu vergriffenen Auflage von 200.000 Exemplaren erschien, Mode und Lifestyle als kulturelle Selbstverständlichkeit der DDR behaupten konnte. Das Erfolgsrezept war die paradoxe Verschmelzung von Mode und Realismus, von Mode­inszenierung und fotografischer Alltagsbeobachtung. Das gelang gerade dort, wo im Alltag weder von weltläufigem, urbanen Schick noch einer rebellischen Jugend die Rede sein konnte − der Realismus der ­fotografisch-dokumentarischen Erzählweise deckte die Behauptung. Dass sie in Wirklichkeit inszeniert war, stellte weniger ein Problem dar als Situationen, in denen die Fotografie die Realität, so wie sie war, widerspiegelte.

Dann trat das Zentralkomitee auf den Plan und rügte die Mauern im Hintergrund, von denen der Putz bröckelte und aus denen eine „pessimistische Haltung“ sprach, wie es Thomas Winkler in seinem Beitrag zitiert. Die Sibylle sei, als Nischenprodukt wahrgenommen, relativ wenig reglementiert worden. Dabei brauchte es gar nicht die Partei, um zu verstehen, wie riskant es war, in die Wirklichkeit der „Industriestadt Bitterfeld“ hinauszugehen. In Zuschriften zur gleichnamigen Fotostrecke beklagten die Leserinnen, man könne doch in Bitterfeld gar kein schönes Kleid tragen, weil es „gleich mit dem Dreck aus unseren Schornsteinen berieselt“ werde. Das brachte die Fotografen schnell wieder in die Friedrichstraße zurück.

Sibylle-Gründerin wurde Opfer der Nürnberger Rassegesetze

Zumal Ostberlin Ende der 1960er Jahre als Hauptstadt der DDR modernisiert und fotogen wurde. Vor den neuen Plattenbauten ließen sich grandiose Modestrecken inszenieren. Die Neubauten waren das architektonische Echo auf die Gestaltung der Sibylle, die sehr deutlich am Modernismus des Schweizer Designs orientiert war. Axel Bertram verantwortete sie, einer der einflussreichsten deutschen Gebrauchsgrafiker der Nachkriegszeit. Die von ihm entwickelte Sans Serif Nr. 1 für die Überschriften, kombiniert mit Adrian Frutigers Univers, ergaben ein schnörkelloses, klares, zugleich freundliches und zugewandtes Erscheinungsbild der Sibylle.

Nicht nur dort war die Sibylle, überspitzt formuliert, ein Produkt systemfremder Einflüsse. Durch die Schule mondäner Weltläufigkeit, wenn auch nicht freiwillig, war etwa Sibylle Boden-Gerstner gegangen, auf deren Antrag die Gründung der Zeitschrift 1956 erfolgte. 1920 als Tochter eines jüdischen Pelzhändlers in Breslau geboren, wird sie ein Opfer der Nürnberger Rassegesetze, erst 1940, illegal nach Paris gelangt, kann sie dort ihr Kunststudium fortsetzen. Nach dem Krieg bewirbt sie sich als Kostümbildnerin bei der Defa. Als solche arbeitet sie wieder, als sie Anfang der 1960er Jahre ihres Postens als stellvertretende Chefredakteurin wieder enthoben wird. Nach Meinung der Genossen war die Sibylle „zu französisch“.

Für die Kreativen war die „Sibylle“ ein Magnet.

Also ihnen verdächtig: Statt vom Institut für Publizistik und Zeitungswissenschaft der Karl-Marx-Universität in Leipzig kamen die Moderedakteur*innen aus dem Bereich der Schneiderei und der Modegestaltung. Für die Kreativen war die Sibylle ein Magnet. Konkurrenzlos konnte die Zeitschrift jeden begabten Fotografen für sich gewinnen. Wo sonst hätten er oder sie ihre Bildideen so ungehindert vom üblichen Gremienwesen formulieren können? Dass sich die schönen Mädchen der Sibylle nicht verweigerten, versteht sich von selbst. Gerade sie, die Models, die ehemaligen Offsetdruckerinnen, Krankenschwestern und Verkäuferinnen, entsprachen dem von der Sibylle als Leserin imaginierten Typus der emanzipierten, selbstbewussten Frau.

Sie kommen am Ende des Ausstellungbands zu Wort, etwa Aelrun Goette, freiberufliches oder in DDR-Sprachregelung „unständig beschäftigtes“ Sibylle-Model der 1980er Jahre. Sie erzählt, wie sie „nach dem stromlinienförmigen, sozialistischen Alltag, gegen den ich früh rebelliert hatte, plötzlich das Abenteuer der Modewelt“ entdeckte. Wo die Shootings oft „Partycharakter“, wie sie richtig bemerkt, und „etwas mit Kunst zu tun“ hatten. Auch deshalb, weil es nie ums Verkaufen hoher Stückzahlen ging, trotz all des Aufwands, der hinsichtlich der Kleider oder der Locations betrieben wurde.

Nicht von dieser Welt

Auch wenn sich die Sibylle um eine gewisse Bodenständigkeit sogar bemühte, war sie in vielerlei Hinsicht nicht von dieser Welt. So waren Schriftstellerinnen wie Anna Seghers, Monika Maron und Christa Wolf, Schauspielerinnen wie Angelica Domröse, Corinna Harfouch und Katharina Thalbach in großbürgerlich anmutenden Interieurs gegenüber der normalen Angestellten und Arbeiterin deutlich überrepräsentiert, deren Alltag mit Versammlungen, Werkskluft und Aufmärschen erst gar nicht vorkam.

Bis 26. November, Opelvillen, Rüsselsheim. Ute Mahler/Kunsthalle Rostock (Hrsg.): „Sibylle: Zeitschrift für Mode und Kultur“. Hartmann Projects Verlag, ­Stuttgart 2016, 336 Seiten, ca. 570 Abb., 39,80 Euro

Stattdessen gab es Zirkuszelte und Ostseebäder und etwas im Sozialismus ganz und gar nicht Erlaubtes: Melancholie. Sibylle-Leserin Anja Maier beschreibt das als berauschende Erfahrung von „kultivierter Randständigkeit“ und „Versonnenheit“. Dar­an mangelte es gewaltig im Osten. Dass das Gleiche für den Westen gilt und besonders für die dortigen Mode- oder Frauenzeitschriften, lernte sie später. Verständlich, dass keine von ihnen sie im wiedervereinigten Deutschland überzeugte.

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