Kolumne Kapitalozän: Von Söhnen und Hurensöhnen

Die FDP könnte vom Linkssein gelangweilte Linke als neue Wählerschicht ansprechen. Was also tun, wenn mein Kind ein Neoliberaler wird?

FDP-Spitzenkandidat Christian Lindner im Closeup

Unser Autor würde gern mal mit Christian Lindner zu Abend essen und über den Kapitalismus reden Foto: reuters

Die Nacht hat mich tief, sehr tief in ihre seligen Arme geschlossen, fernab vom Getöse der Welt, den Eitelkeiten und dem Wahnsinn. Geruhsam drifte ich durch mein inneres Schwarz, als Höllengebrüll losbricht. Mein Hirn vibriert wie eine Kirchturmglocke, flieht freiwillig aus meinem Schädel, springt in eine Küchenmaschine und püriert sich selbst.

Egal, Nachts den Sohn wickeln ist viel angenehmer als Wahlkampf. Er ist ein paar Tage alt, das bedeutet Dauerrausch aus Endorphinen, Schlafmangel, Übermüdung (zwei Ü in einem Wort! Wie in Schülz-Mürkel, falls die heiraten) und ohrenbetäubendem Lärm, für die Jüngeren: Ein Kind ist krasser als ein Elektrofestival, nur nüchterner.

Verlebe den bedeutungslosesten Wahlkampf in der Geschichte der Demokratie also im Delirium. Sehr angenehm, allerdings mit väterlich besorgtem Halbschlafgrusel: Als ob wir Deutschen in der Schwarzwaldklinik über die Wandfarbe gustierten, obwohl draußen der Wald abbrennt.

Auf ein sehr großes FDP-Wahlplakat in Tempelhof hat jemand sehr groß die Ergänzung „Hurensohn“ direkt unter den lasziv um Stimmen werbenden Christian Lindner geklebt. Zweifellos ein diskriminierender Vergleich für alle Sexarbeiterinnen und ihre Söhne. Trotzdem würde der FDP empfehlen, über alle Lindners „Hurensohn“ zu kleben, wahlweise auch „Arschkrampe“ oder „Pimmelfresse“, und zwar in ganz Deutschland und hoch offiziell.

Verstehen Sie mich nicht falsch, ich selbst würde Christian Lindner nie so bezeichnen, er hat das nicht verdient. Ich würde gern mal mit ihm zu Abend essen und über den Kapitalismus reden.

Das Kapitalozän ist ein eigenes Erdzeitalter. In dieser Kolumne geht es ums Überleben in selbigem. Vielleicht kennen Sie bereit das Anthropozän. Super Palaverthema. Wie die Kreidezeit, das Jura oder das Paläoproterozoikum, so ist auch das Anthropozän ein eigenes Erdzeitalter. Es besagt, dass die Menschheit durch Acker- und Bergbau, durch Städte, Atombomben und Straßen die Erde so sehr umgegraben hat, dass man das noch in 1000 Millionen Jahren im Gestein erkennen wird.

Das Kapitalozän ist die linksökologische Erweiterung des Anthropozäns. Demnach ist es nicht der Mensch an sich, der Ánthropos, der den Planeten geologisch verändert. Nein, es sind die Kapitalisten. Schließlich können, global gesehen, die meisten Menschen nichts für die Naturzerstückelung.

Aber die Methode würde funktionieren. Ich habe mich nur wegen dieses „Hurensohn“-Zusatzes erstmals inspiriert gefühlt, das Wahlprogramm der Liberalen durchzulesen. Tief in der Seele bin ich potenzieller Wähler. Die persönliche Freiheit des Menschen ist mir ein Herzensanliegen, sie ist zwar eine putzige Illusion, aber eine sehr nützliche, um die Massen bei Laune zu halten. Auch Unternehmertum ist super – mir fehlt einfach die nötige Arschlochhaftigkeit dazu.

Durch eine konsequente ironische Diffamierung ihres Spitzenkandidaten könnte die FDP also völlig neue Wählerschichten ansprechen, so vom Linkssein gelangweilte Linke. Für Stimmen muss man einfach alles tun. Macht die FDP doch sowieso. Spielt als wirtschaftsliberale Partei wider die ökonomische Vernunft ein nationalkonservatives Spiel, mit knallharter Austerität und einem Eurozonen-Rausschmiss für böse Schuldenländer. Das gibt Stimmen vom rechten Rand.

Die persönliche Freiheit des Menschen ist mir ein Herzensanliegen, sie ist zwar eine putzige Illusion, aber eine sehr nützliche, um die Massen bei Laune zu halten

Wem die Menschen in Südeuropa nach jahrelangem Spardiktat so gleichgültig sind, der kann wohl dem eigenen Spitzenkandidaten ein klein wenig Hurensohn abverlangen. Für Stimmen. Ich entdeckte jedenfalls große Lyrik im FDP-Programm: „Der Alltag ist vielfältig geworden: die Pasta aus Italien, die Jeans aus der Türkei und das Handy aus Korea oder China“.

Was ist mit Käse aus Holland? Egal. Eigentlich wollte ich ernsthaft wissen, was die liberalen Kapitalismusversteher zur Krise des Kapitalismus sagen. Spekulationsblasen, Steuerflucht, Geldschwemme, die Reform internationaler Finanzmärkte, immer größere Großbanken, die Wahrscheinlichkeit einer neuen, monumentalen Finanzkrise, solche Sachen. Die Antwort ist: Nichts. Große, gähnende Leere im Wahlprogramm.

Im Vergleich dazu war Erich Honecker in Sachen Krise des Sozialismus 1988 regelrecht selbstkritisch. Gut, die Grünen haben als erklärte Europapartei die Europäische Zentralbank in ihrem Wahlprogramm vergessen. Und das vielversprechendste Versäumnis kommt von der CDU: Kein Wort zum Kiffen. Nicht mal die üblichen hysterischen Warnungen vor Verblödung. Konservative, seid gewarnt. Merkels Atomausstieg 2018 nach erfolgten Koalitionsverhandlungen mit FDP und Grün heißt vermutlich Legalisierung von Cannabis.

Um den Sohnemann auf das 21. Jahrhundert vorzubereiten hab ich ihm nebst Wahlprogrammen einen Spiegel-Artikel über den Niedergang der USA vorgelesen. Der Kleine lag auf dem Sofa, guckte nachdenklich Richtung Fenster, weil es da so hell ist. Beim Wort „Protektionismus“ plärrte er herzzerreißend los. Und, ach, ich sage Ihnen, in diesem Moment spürt man den ganzen Druck des Vaterseins. Was, wenn er ein Neoliberaler wird? Ich werde ihn trotzdem lieben.

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Beschäftigte sich für die taz mit der Corona-Pandemie und Impfstoffen, Klimawandel und Energie- und Finanzmärkten. Seit Mitte 2021 nicht mehr bei der taz.

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