Raffael-Ausstellung in Wien: Anatomie des Imaginären

Die Expressivität beginnt in den Muskeln: Skizzen und Zeichnungen Raffaels erlauben in der Wiener Albertina einen Blick in die Werkstatt Malers.

Rötelzeichnung von Männerkörper, in heftiger Bewegung.

Der Ausschnitt aus einem Studienblatt zum „Der bethlemitische Kindermord“ zeigt die Figuren der Henker, die die flüchtenden Mütter verfolgen Foto: Royal Collection Trust/ © Her Majesty Queen Elizabeth II 2017

Wie studiert man die Anatomie eines Engels? Lieber Engel, kommen Sie doch bitte heute um 17 Uhr in mein Atelier in Rom, ich arbeite gerade an den Fresken für die Chigi-Kapelle. Nun, so wird es nicht gewesen sein. Und dennoch gibt es da diese wunderbare Studie eines jungen, recht muskulösen männlichen Engels, den Raffael gezeichnet hat, wie er rückwärts mit den Beinen Luft tritt, den Bauch gespannt, mit den Armen eine Schriftrolle haltend, die gefiederten Schwingen fast geschlossen.

Das Gewand, das sich im Flugwind bauscht und auf dem Wandbild in der Kapelle des Bankiers Agostini Chigi seinen Körper umhüllt, flattert ihm in der mit zartem Rötelstift gefassten Studie noch hinterher. Denn, wie Achim Gnann, Kurator der am 29. September eröffneten großen Raffael-Ausstellung in der Albertina in Wien betont, jede Expressivität der Figuren von Raffael beginnt in der Muskulatur, der Spannung des Körpers. Und nirgendwo lässt sich dies besser erkennen, als in den Studien, Ideenskizzen und Kartons, die einem Bild oder Fresko vorausgehen.

In der Albertina in Wien ist jeder Besuch eine große Inszenierung. Denn bevor man die Ausstellungssäle betritt, schreitet (!) man über roten Teppich durch eine Säulenhalle und eine Treppe hinauf. Vor der Raffael-Ausstellung sind an der Wand die Sätze notiert, mit denen sein Tod 1520, mit nur 37 Jahren, betrauert wurde. Vasari schrieb: „Mit dem Tod des Künstlers starb auch die Malerei, denn als Raffael die Augen schloss, blieb sie blind zurück.“

Konkurrent der Natur

Albertina Wien, bis 7. Januar 2018. Der Katalog kostet im Museum 32,90 Euro

Sein Grabspruch im Pantheon in Rom lautete: „Die Natur hatte Angst, als Raffael lebte, vor seinem Sieg; als er starb, dass sie sterbe mit ihm.“ Konkurrent der Natur, Personifikation der Malerei selbst, das ist eine Einstimmung auf höchste Erwartungen.

Die Albertina selbst, eine grafische Sammlung, besitzt seit ihrer Gründung 1776 ein großes Konvolut von Raffael, an die 50 Werke; große Bestände hat das Ashmolean Museum in Oxford, auch aus dem Vatikan und der Sammlung der britischen Königin stammen Leihgaben für die Ausstellung. Sie bringt vielfach Werke zusammen, die ursprünglich aus dem Kontext einer Arbeit stammen: etwa beim „Kindermord von Bethlehem“ Kompositionsskizzen, die noch Veränderungen erkennen lassen, wie das Zueinander der Figuren, der fliehenden Mütter und der sie verfolgenden Henker. Die Beziehungen ihrer Blicke, die Wendungen der Körper erzeugen eine immer größere Dynamik und Dramatik.

Ausgestellt sind auch Kartons in der Originalgröße der späteren Werke mit Punktierungen, um die Komposition zu übertragen. Andere Skizzen bereiten mit Weißhöhungen die Lichtsetzungen vor.

„Ich bin noch ein Zitat. Von Geburt an. Es hat lange gedauert, bis ich begriffen habe, was es bedeutet, ein blinder Text zu sein“

Oft geht es um Detailstudien, immer wieder sieht man beredte Hände. Und denkt dabei an die Hände des Künstlers selbst, den Durchfluss, den das Entstehende ja auch durch seinen Körper nehmen musste. Es ist dieser Gedanke des Prozesshaften, der die Lebendigkeit der chronologisch aufgebauten Ausstellung ausmacht. Raffael gehört zum Kernbestand der Albertina, den in einem größeren Werkkontext vorzustellen, dessen Generaldirektor Klaus Al­brecht Schröder zu seinem Programm gemacht.

Das „Crescendo“ des Faltenwurfs

Er führte zusammen mit dem Kurator Achim Gnann die Journalisten bei der Vorbesichtigung: Und wie die beiden Kunsthistoriker sich kenntnisreich und souverän auffordern, doch nun dieses Detail zu erläutern, jenen Zusammenhang zu erzählen, ist eine eigene Performance. Der Blick auf drei Studien mit Faltenwürfen, die zu einem Wandgemälde im Vatikan, der „Disputa“ gehören, verändert sich, wenn Gnann vom „Crescendo“ der Falten redet und wie ihre Bewegung Charakter und Temperament der Figuren transportiert.

Dabei gibt die Ausstellung auch Gelegenheit Raffaels Karriere zu verfolgen; vom jungen Maler, voll der Bewunderung für die schon erfolgreichen Künstler Michelangelo und Leonardo da Vinci, zum gefragten Künstler und Unternehmer, mit Aufträgen von Päpsten und einem Bankier, die große Wanddekorationen und den Fortbau des Petersdoms in Rom umfassen.

Seine Wandbilder sind neben den sie betreffenden Zeichnungen oft ausschnitthaft reproduziert. Trotzdem kann man sich vor den intimen Papierformaten ihre Monumentalität, das Umfasstwerden von lebensgroßen Figuren nicht einfach vorstellen.

Aus den Uffizien in Florenz konnte ein Selbstporträt von 1506 ausgeliehen werden, melancholisch, fast schüchtern wirkt auf uns heute das Gesicht des jungen Mannes. Aus dem Louvre kommen eine „Madonna mit blauem Diadem“ (von 1511) und ein „Hl. Georg“ (von 1505). Das Pferd bäumt sich auf, der Drache greift an, der Ritter hat das Schwert erhoben und muss den Hieb nach hinten führen, um das Ungeheuer zu treffen. So eine Spannung hat großen Schauwert.

Dreigestirn der Renaissance

Was sich von der Innigkeit der vielen Madonnen, die sich dem spielenden Jesusknaben und manchmal auch dem hl. Johannes als Kind zuwenden, nicht immer behaupten lässt. Gelegentlich taucht der Gedanke an Weihnachtspostkarten auf, wie sie meine Großmutter liebte.

Die Rezeption von Raffael, der gern verehrungsvoll mit Michelangelo und Leonardo da Vinci in ein Dreigestirn der Renaissance versetzt wird, war nicht immer ungebrochen. Teils wurden die beiden Älteren als kraftvoller gegen ihn ausgespielt, teils ihm die große Frömmigkeit und Lieblichkeit seines Werks angekreidet. In seinen idealisierten Bildern ist kein Dreck des Alltags und nichts Dämonisches.

Im 19. Jahrhundert erreichte die Raffael-Verehrung gleichwohl kultische Ausmaße, Künstlergemeinschaften wie die Deutschrömer oder die englischen Präraffaeliten priesen sein Genie. Was, als die Skepsis gegenüber dem Geniekult jener Zeit einsetzte, auch das Raffael-Bild in Mitleidenschaft zog.

Marktwert sieht man nicht

Ohne Zweifel gehört er heute zu den Stars jeder Sammlung, die ihn besitzt. 2012 wurde bei einer Auktion bei Sotheby’s in London die schwarze Kreidezeichnung „Kopf eines jungen Apostel“, eine Studie für das Bild „Transfiguration“, für 36,6 Mil­lio­nen Euro versteigert. Generaldirektor Klaus Albrecht Schröder erinnert daran, als er vor den Apostelkopfstudien steht, die der Albertina selbst gehören. Um zu ergänzen, dass diese Ausstellung die bisher teuerste des Museums ist.

Marktwert sieht man nicht. Was gleichwohl ein Gefühl für die Kostbarkeit des Ausgestellten erzeugt, ist zum einen das Wissen, dass vieles, was die Entstehung eines Werks und den Verlauf eines Gestaltungsprozesses hier anschaulich erzählt, sonst weit verstreut liegt und nur hier für die Dauer der Ausstellung zusammenkommt. Und es ist zum anderen die Empfindlichkeit des Materials, das wenig Licht nur verträgt, um nicht zu verschwinden. Eine Studie eines Abendmahls, mit Silberstift und Weißhöhung auf ein kleines Blatt gesetzt, ist so zart, so vergänglich, fast leer scheint das Blatt von Weitem, von Nahem die Körper nur geträumt.

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