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: An den Rändern des mittleren Abgrunds

„Victoria – Männer & andere Missgeschicke“ (Regie: Justine Triet, F 2016)

Victoria (Virginie Efira) ist Anwältin, Ende dreißig, attraktiv, hat zwei kleine Töchter, ist geschieden. Ihr Ex David, Möchtegern-Schriftsteller, ist ein Problem. Er bloggt, und zwar über sie oder jedenfalls über eine Frau ihres Namens, plaudert dabei nicht nur Intimitäten aus, sondern auch Geheimnisse über Mandanten, die sie ihm einst im Vertrauen verriet. Sie verklagt ihn, es kommt zum Prozess. Alles Autofiktion, sagt David, der sich selbst verteidigt.

Auch ein Problem: Vincent (Melvil Poupaud), ein Freund Victorias, der sich gegen Vorwürfe seiner Ex, er habe sie zu töten versucht, verteidigen muss. Er fleht Victoria an, seinen Fall zu übernehmen. Dabei ging das schon mal furchtbar schief in einer ähnlichen Sache. Da hatte sie einer anderen Ex von Vincent das Gespräch nicht entschieden genug verweigert und bekam prompt einen halbjähriges Berufsverbot aufgebrummt. Trotzdem: Vincent ist verzweifelt, sie hilft ihm. Es kommt zum Prozess. Es werden ein Dalmatiner und ein Schimpanse in den Zeugenstand gerufen. Das ist, wie zu erwarten, sehr komisch.

Probleme, Probleme. Dabei: Victoria ist eine erfolgreiche Frau. Irgendwie kriegt sie Familie und Beruf unter einen Hut. Sie sucht aber auch einen neuen Mann. Sie hat Dates, die schnell in ihr Schlafzimmer führen, aber dann vermasselt sie’s. Oder er. Sie besucht eine Hellseherin. Die sieht: Probleme. Drogen. Und einen Mann, der Victoria folgt.

Da ist was dran. Auf einer Hochzeit, mit der alles beginnt, läuft Victoria Sam (Vincent Lacoste) über den Weg. Einem früheren Klienten, Nickelbrille, Wuschelkopf, Anfang zwanzig, eine Drogensache, aber die ist, versichert er, jetzt vorbei. Er wirkt wie ein ernsthafter junger Mann und möchte gern in ihrer Kanzlei hospitieren, auch ohne Geld. Oder sich um die Töchter kümmern, als eine Art Au-pair. Sie lässt sich darauf ein, Sam zieht zu ihr, schläft auf der Couch, kümmert sich um die Töchter. Man sieht schon, dass er mehr von ihr will. Sie sieht es nicht oder will es nicht sehen, aber es ist klar, wie ein Komödien-Happy-End für den Film aussehen müsste.

„Victoria“ ist eine Komödie, eine französische Verwandte von Amy Schumers (Buch, Hauptrolle) und Judd Apatows (Regie) „Dating Queen“. Im Zentrum eine erfolgreiche Frau, die sich in Richtung Nervenzusammenbruch bewegt. Wobei keine Frage ist, dass der Film mit ihr sympathisiert. „Größe und Einsamkeit der modernen Frau“ ist die (positive) Kritik in Le Monde überschrieben. Das ist ein bisschen klischeehaft formuliert, aber es stimmt: Die Regisseurin und Drehbuchautorin Justine Triet nimmt ihre Heldin und deren Malaisen hinreichend ernst. Und es sind Malaisen, die sich aus ihrer sozialen Lage ergeben.

„Victoria“ ist Triets zweiter Spielfilm, er hat letztes Jahr in Cannes die Semaine de la Critique eröffnet und war im Kino erfolgreich. Es ist ein Film, der sehr geschickt an den Rändern mittlerer Abgründe balanciert. Den mittleren Abgründen korrespondiert die mittlere Komik, die das Groteske nur gelegentlich streift. Triet hat hinreichend Sinn für Nuancen, um diesen mittleren Dingen Tiefe zu geben. Und sie hat Sinn für Tempo, das richtige Verhältnis für Auslassung und Detaillierung, für ökonomische Inszenierung. Und einmal darf die Kamera von ganz weit oben auf die Heldin herabstoßen: ein Mut zur Pointierung, der Triet endgültig als exzellente Komödienregisseurin erweist.

Ekkehard Knörer

Die DVD ist im Handel ab rund 14 Euro erhältlich