Bilanz der G20-Prozesse in Hamburg: G20-Gipfel vor Gericht

Nach den ersten Prozessen gegen Gipfelgegner: Wie die Justiz die Angeklagten einschüchtert – und wie sich die Verteidigung verändert.

Steine für die Polizei: Demonstranten gegen Polizisten beim G20-Gipfel am Neuen Pferdemarkt Foto: Miguel Ferraz

HAMBURG taz | Als die Öffentlichkeit schon fast das Interesse verloren hat, wird es plötzlich interessant. Es ist der 12. G20-Prozess am Hamburger Amtsgericht und die Verteidiger setzen auf Konfrontation.

Sie fordern einen Freispruch für ihren Mandanten, der eine Flasche auf einen Polizisten geworfen haben soll, stellen Anträge, beklagen, dass ihnen Akten vorenthalten worden seien und werfen der Richterin Befangenheit vor. Ein Urteil fällt an diesem Tag nicht, der Prozess wird vertagt. Aber es ist das erste Mal seit dem ersten G20-Prozess am 28. August, dass ein Angeklagter nicht vor dem Gericht um Entschuldigung bittet, ein Geständnis ablegt, Reue zeigt und Besserung gelobt.

Mit dem ersten, dem drakonischsten Urteil der G20-Prozesse hat der als Hardliner bekannte Amtsrichter Johann Krieten den Maßstab hoch gesetzt. Zu 2 Jahren und 7 Monaten Haft ohne Bewährung verurteilte er Peike S., einen 21-jährigen Niederländer ohne Vorstrafen. S. soll zwei Flaschen auf Polizist*innen geworfen haben. Als der Richter das Urteil verkündet, guckt S. sich erschrocken zu seinen ebenso überraschten Freund*innen und Unterstützer*innen im Gerichtssaal um. Mit so einem Urteil hatte niemand gerechnet.

In den folgenden Prozessen gesteht jeder Angeklagte gleich zu Beginn. „Es war ein Fehler“, sagen viele, „ich dachte nicht, dass sich die Situation so entwickeln würde“, sagen andere, „ich bereue es“. Einer sagt: „Ich wäre sehr dankbar, wenn ich zurück zu meiner Arbeit und meiner Familie kann – das ist mir das Wichtigste.“ Sie alle kommen mit Bewährungsstrafen davon.

Manche Jurist*innen vermuten eine Strategie dahinter: In fast allen Fällen, die zur Anklage kamen, sind die Beschuldigten Ausländer. Gegen sie lässt sich die Untersuchungshaft leicht verhängen: Mit „Fluchtgefahr“ begründen die Haftrichter den vorsorglichen Freiheitsentzug. Bei Deutschen geht das nicht so leicht.

Nach drei Monaten in U-Haft wollen die Anfang bis Ende Zwanzigjährigen nur eins: raus aus der U-Haft, raus aus Deutschland. Aber jeder Befangenheitsantrag, jedes Hinzuziehen weiterer Zeug*innen, jede weitere Akteneinsicht verzögert den Prozess. Bei der Terminlage des Gerichts bedeutet das für die Angeklagten mindestens ein paar weitere Wochen in Haft.

So legen die Beschuldigten der G20-Prozesse Geständnisse ab, zeigen Reue, kriechen zu Kreuze. „Es drängt sich der Eindruck auf, dass die Untersuchungshaft auch genutzt wird, um schnellere Geständnisse zu erhalten“, sagt die Anwältin Britta Eder. Die hohen Haftstrafen nehmen die Verurteilten widerspruchslos in Kauf, solange sie zur Bewährung ausgesetzt werden. Eine Bewährungsstrafe in Deutschland bedeutet nicht viel, wenn man in Italien lebt.

Einigen Verteidiger*innen merkt man an, dass sie die Polizeizeugen gerne auseinandernehmen würden, manche sagen es auch offen. Aber sie dürfen nicht, denn ihre Mandanten wollen raus

Auch der Verteidiger Jonathan Burmeister sagt über den Prozess gegen seinen Mandanten: „Die Untersuchungshaft ist der eigentliche Skandal.“ Der 24-jährige Stanislaw B. war zu einer Bewährungsstrafe verurteilt worden, weil er Gegenstände dabei hatte, die bei Demonstrationen verboten sind, darunter eine Taucherbrille und Pfefferspray. Ob er überhaupt auf dem Weg zur Demo war, wurde im Prozess nicht abschließend geklärt – B. wurde in 2,4 Kilometer Entfernung 70 Minuten vor Demobeginn festgenommen.

Die Voraussetzungen sind bei den meisten Angeklagten ähnlich: Die Beschuldigten sind jung, haben ein Studium oder eine Ausbildung abgeschlossen und gehen meistens geregelten Jobs nach. Einer arbeitet als Verwaltungsangestellter in Bilbao, ein anderer studierte als Hochbegabter in Newcastle, ein anderer züchtet Bohnen in Sizilien. Bis auf zwei ist niemand vorbestraft oder polizeilich auffällig geworden.

Die Vorwürfe lauten fast immer gleich: Flaschenwürfe auf Polizeibeamt*innen. Seit der Strafgerichtsverschärfung vom 1. Juli sind das drei Delikte in einem: tätlicher Angriff, versuchte gefährliche Körperverletzung und, wenn es aus einer Menschenmenge heraus passiert ist, schwerer Landfriedensbruch. Das Mindeststrafmaß beträgt ein halbes Jahr Haft.

Indem sie ihre Schuld eingestehen, nehmen die Angeklagten ihren Verteidiger*innen die Möglichkeit, die Brauchbarkeit der Zeugenaussagen anzuzweifeln, Vorwürfe auseinanderzunehmen, in die Offensive zu gehen. Dabei stützen sich die Vorwürfe meist nur auf die Aussage eines einzigen Polizisten. Subjektive Erinnerungen sind manchmal trüb – die Tage des G20-Gipfels waren lang, die Straßen voll und wuselig, die Demonstrant*innen waren alle ähnlich gekleidet, es war dunkel. Zwar gibt es riesige Datenmengen Videomaterial, aber auch darauf ist es schwierig, einzelne zweifelsfrei zu identifizieren.

Einigen Verteidiger*innen merkt man an, dass sie die Polizeizeugen gern auseinandernehmen würden, manche sagen es auch offen. Aber sie dürfen nicht, denn ihre Mandanten wollen raus. Dass sie vieles anfechten könnten, wird deutlich, als der Verteidiger Lino Peters beim 11. G20-Prozess Ende September sein Plädoyer hält.

Auch Peters’ Mandant wollte keine offensive Verteidigung, sondern legte ein Geständnis ab. Im Plädoyer versucht der Anwalt unterzubringen, was er in der Hauptverhandlung nicht thematisieren durfte. Man müsse verstehen, was an den Gipfeltagen in Hamburg los war, sagt Peters. „Die Stimmung war aufgeheizt, Leute haben sich fehlerhaft verhalten. Aber es wird wohl niemand, außer dem Hamburger Bürgermeister, behaupten, andere Konfliktparteien hätte keine Fehler gemacht.“ Olaf Scholz hatte nach dem Gipfel behauptet, es habe keine Polizeigewalt gegeben, und harte Strafen für Randalierer*innen gefordert. Obgleich viele Richter*innen bei ihren Urteilsbegründungen betont haben, sich nicht von Scholz’ Forderung leiten zu lassen, sei das fast unmöglich, sagt Peters.

Man müsse sich außerdem fragen, ob es auf ein staatliches Verschulden hindeute, dass die Stimmung zwischen Demonstrant*innen und Polizist*innen so aggressiv gewesen sei. Man müsse die Einsatzstrategie der Polizei thematisieren, die folterähnlichen Zustände in der Gefangenensammelstelle, die völlig unverhältnismäßige Untersuchungshaft. Und man müsse fragen: Wie gefährlich kann eine leere Flasche für einen Beamten mit Panzerschutzausrüstung sein? „Kann man von versuchter Körperverletzung sprechen, wenn klar ist, dass ein uniformierter Polizist gar nicht verletzt werden kann?“

Nicht zuletzt müsse man auch die Strafrechtsverschärfung vom 1. Juli, den neuen Paragrafen 114, „tätlicher Angriff“, problematisieren. Das Verfassungsgericht müsste entscheiden, ob der Paragraf überhaupt mit den Grundrechten vereinbar sei.

Das Urteil fällt trotzdem wenig überraschend und nicht besonders mild aus: Anderthalb Jahre Haft zur Bewährung, plus Geldstrafe und der Abgabe einer DNA-Probe für eine Straftäterdatei. Der Angeklagte wirkt erleichtert, Peters sieht unzufrieden aus.

Seit dem 12. Prozess nun haben die Geständnisse aufgehört. Nach dem Franzosen macht auch der Italiener Emiliano P. keine Angaben zur Tat, sondern verkündet stattdessen: „Ich bin stolz, Antifaschist und Kommunist zu sein.“ Ohne Antifaschismus könnten weder Italien noch Europa existieren. Seine Verteidigerin legt Widersprüche ein und zweifelt an der Legitimität des Zeugen: Ein Zivilpolizist des bayrischen Sonderkommandos USK, verkleidet mit künstlichen Koteletten, Brille und Vokuhila-Perücke. Auch der Richter findet ihn nicht besonders glaubwürdig. Trotzdem verurteilt er P. zu einer Bewährungsstrafe. Ein Erfolg, sagt die Anwältin. Mit weniger hatte beim 14. G20-Prozess niemand mehr gerechnet.

Mehr zum Thema „Die Justiz nach dem G20-Gipfel“ und warum die Verfahren gegen Polizist*innen so lange dauern, lesen Sie im Schwerpunkt der gedruckten Nord-Ausgabe oder hier.

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