100 Jahre Oktoberrevolution: Die Mumie der Revolution

Vor 93 Jahren starb Lenin. Seine Leiche liegt noch immer im Mausolem. Zeit, ihn zu beerdigen. Doch die KP und der Tourismusverband sperren sich.

Die Leiche von Lenin im Mausoleum in Moskau

Noch um ein paar Tage frischer: Lenins Leiche in Moskau, 1991 Foto: dpa

MOSKAU taz | Lenin wirkt verstimmt. Seine Augen sind geschlossen, als müsse er sich beherrschen. Das Gesicht liegt ausdruckslos da, aber zwischen den Augenbrauen deutet sich eine Falte an. Eine Hand hält er zur Faust geballt. Die andere liegt leicht auf dem schwarzen Stoff. An den Fingerspitzen sieht man schwarze Fäulnis, die zersetzende Kraft des Todes, die Wissenschaftler seit einem Jahrhundert zu beherrschen versuchen.

Lenin ist im Jahr 1924 gestorben. Dass man noch 93 Jahre später seinen Leichnam betrachten kann, ist unglaublich. Die Bolschewiken waren damals gerade dabei, die Sowjetunion zu formen, die erste Verfassung tritt wenige Tage nach Lenins Tod in Kraft. Es ist Januar, frostige dreißig Grad unter null. Lenin wird vor dem Kreml aufgebahrt, damit das Volk sich von ihm verabschieden kann. Eine Arbeiterbrigade sprengt dafür ein Loch in den gefrorenen Boden. Kolonnen von Menschen ziehen vorbei und erweisen Lenin die letzte Ehre. Nach einigen Tagen beginnt die Leiche trotz der Kälte zu verwesen. Die Nase wird schwarz, die Hände verfärben sich graubraun, helle pelzige Flecken breiten sich auf seinem Körper aus: Schimmel.

Stalin bestellt zwei Wissenschaftler ein, einen Anatomieprofessor und einen Chemiker, und beauftragt sie, sich um die Konservierung der Leiche zu kümmern. Die beiden wissen, dass sie sterben werden, wenn sie versagen. Also nehmen sie Lenin über Monate auseinander. Trotzki tobt, Lenins Witwe protestiert – Lenin wollte in Sankt Petersburg beerdigt werden, neben seiner Mutter. Und er wollte nie zu einem Symbol werden.

Aber Stalin setzt sich durch. Lenins Organe werden entfernt, er wird in Essigsäure gebadet, mit Formaldehyd aufgespritzt, in Formalin eingelegt. Die Leichenflecken werden mit Wasserstoffperoxid gebleicht, die schimmligen Stellen mit Desinfektionsmittel bearbeitet. Man näht seinen Mund zu, der sich immer wieder öffnet.

In Chemikalien baden

Seitdem liegt Lenin vor dem Kreml, aus dem früheren Holzverschlag wurde ein steinernes Mausoleum. Alle zwei Jahre verschwindet Lenin für einige Wochen, er muss dann erneut in Chemikalien baden, damit er sich nicht weiter zersetzt. Während dieser Wochen schließt das Mausoleum. Ansonsten stehen täglich Tausende Menschen an, um ihn zu besuchen, immer zwischen 10 und 13 Uhr.

Da liegt er hinter Glas. Still und gelb. Gebleicht und haltbar gemacht mit Formalin

Der Rote Platz in Moskau gehört zu den magischen Orten, die vor Geschichte vibrieren. Durch die kalte Luft schweben die Gesänge von orthodoxen Geistlichen; hier stehen die Kirchen, in denen noch die Zarenfamilien Hochzeiten oder Taufen feierten. An der Kremlmauer liegen die Leichname von wichtigen Politikern der Sowjetunion. Dort ruht auch Stalin, der sich bis 1961 mit Lenin das Mausoleum teilte – bis Chruschtschow ihn im Zuge der Entstalinisierung ausquartierte.

In der langen Schlange vor dem Ehrenfriedhof warten in diesen verregneten Oktoberwochen vor allem Touristen: sehr viele Chinesen, aber auch Amerikaner, Deutsche, Tschechen, Russen. Fragt man sie, wie sie sich an Lenin erinnern, dann zucken die meisten Russen mit den Schultern. „Ein Demokrat war er nicht“, sagt einer. „Er musste brutal sein. Es war eine andere Zeit“, entgegnet eine ältere russische Frau, die das Mausoleum mit ihrer amerikanischen Schwiegertochter besucht. Eine andere Frau sagt: „Ich wünschte, es hätte die Revolution in Russland nie gegeben. Vielleicht hätten wir dann noch den Zaren. Und alles wäre schöner und leichter, wer weiß.“ Eine tschechische Studentin sagt: „Bei uns ist Lenin so gut wie vergessen. Ich bin nur hier, weil die Mumie eine Attraktion ist.“

Hände aus den Taschen!

Die Schlange bewegt sich langsam vorwärts, nach einer halben Stunde darf man hinein. Auf jedem Treppenabsatz stehen Wachmänner in der schwarzen Dämmerung, die Hände an der Hosennaht. Sie fordern die Besucher mit einer Geste auf, ihre Hände aus den Taschen zu nehmen.

Und dann liegt er da. In einem Glaskasten, der von innen leuchtet. Gelb und still. Die Besucher schieben sich langsam um den Kasten und starren ihn an. Lenin, mit leicht gerunzelter Stirn.

Es gab immer wieder Versuche, ihn unter die Erde zu bringen. Auch wegen der Kosten, die die Konservierung der Mumie verursacht: 1,5 Millionen Dollar pro Jahr. Jelzin und Gorbatschow wollten es, die orthodoxe Kirche fordert es, ebenso die islamischen Gemeinde und auch einige Politiker aus Putins Partei.

Aber bisher ist jeder Versuch gescheitert. Die Kommunistische Partei wehrt sich dagegen, und man erzählt sich, die Tourismusverbände hätten auch ihre Finger im Spiel. Putin selbst meidet das Thema.

Anfang des Jahres führte das Lewada-Zentrum eine repräsentative Umfrage durch – demnach beurteilen 56 Prozent Lenins Rolle in der Geschichte Russlands positiv. Nur 5 Prozent der Russen finden, dass er ein brutaler Diktator war. Und einem Drittel ist Lenin gleichgültig. Doch in einer Frage sind sich die Russen einig: Fast hundert Jahre nach seinem Tod ist es an der Zeit, Lenin zu begraben.

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