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: Die Brüsseler Blase platzt: Sexuelle Belästigung gibt’s auch bei der EU

Offenbar muss sich erst halb Hollywood über die Missbrauchsvorwürfe gegen den US-Medienmogul Harvey Weinstein empören, damit auch die Europäische Union aufwacht: Mitten in der Brüsseler Blase werden immer neue Fälle sexueller Belästigung bekannt, sammeln Medien Dutzende Geschichten ungewollter und unangemessener Annäherungen. Am Mittwoch widmete sich das Europaparlament nun in einer Dringlichkeitssitzung dem Problem.

Ausgerechnet Věra Jourová, die für Gleichberichtigung zuständige EU-Kommissarin, hatte als Erste das Schweigen gebrochen. Auch sie sei Opfer sexueller Gewalt geworden, berichtete die tschechische Politikerin. „Hier im Saal müssen noch weitere Opfer sitzen“, sagte sie bei einem Event des Brüsseler Insider-Dienstes Politico. „Behaltet es nicht für euch, wehrt euch.“ Allein bei Politico meldeten sich seitdem mehr als 30 Personen – Männer und Frauen –, die über sexuelle Übergriffe bis hin zu Vergewaltigung klagen.

Doch die Dringlichkeitssitzung am Mittwoch leitete ausgerechnet Parlamentspräsident Antonio Tajani. Der konservative Italiener ist ein enger Vertrauter des italienischen Expremiers Silvio Berlusconi, der mit Sexpartys in die Negativ-Schlagzeilen gekommen war.

Tajani wies darauf hin, dass es doch längst einen parlamentsinternen Ausschuss gebe, der sich auch mit Beschwerden wegen sexueller Belästigung befasse. „Wir werden sehen, wie viele Personen sich melden“, so Tajani. Viele Beschwerden seien bisher nicht eingegangen. Also alles halb so wild?

Das sehen die meisten Europaabgeordneten allerdings völlig anders. Mehrere Abgeordnete und Mitarbeiter forderten von Tajani in einer E-Mail einen „radikalen Wandel“. Sozialdemokraten, Liberale, Linke und Grüne schlugen unabhängige, externe Untersuchungen von Missbrauchsvorwürfen vor.

Kritiker beklagen eine „Kultur des Schweigens“, die sich auf den Gängen und in den winzigen, wabenartigen Büros der Europaabgeordneten breitgemacht habe. „Selbst wenn es einen Vergewaltigungsfall geben sollte, dürften wir darüber nicht reden“, sagte Parlamentssprecherin Marjory van den Broeke.

Durch Diskretion sollen die Opfer geschützt werden. Doch sie nützt offenbar auch den Tätern, zu denen wohl einige Europaabgeordnete zählen. Eine interne Untersuchung, wie sie Tajani verspricht, reiche daher nicht aus. „Wir wollen eine unabhängige Untersuchung der Vorfälle“, bekräftigt die SPD-Europaabgeordnete und Frauenrechtsexpertin Maria Noichl.

Am Donnerstag will das Parlament eine entsprechende Resolution beschließen.

Eric Bonse, Brüssel