Milo Rau an der Berliner Schaubühne: Ist das jetzt Theater?

Regisseur Milo Rau berief seine Generalversammlung der Nichtrepräsentierten dieser Welt in die Schaubühne ein. Ein spannendes Experiment.

Fünf Menschen sitzen an einem Tisch, auf dem "Generalversammlung" steht

Bühne oder Politik? Eröffnungssitzung der „General Assembly“ am 3. November Foto: Daniel Seiffert

Es war ein kurzer Moment des Streits in der Schaubühne am Lehniner Platz in Berlin, in dem wie in einem Brennglas alles zusammenkam, was die von Milo Rau und seinem „International Institute of Political Murder“ einberufene Generalversammlung der Nichtrepräsentierten dieser Welt ausmachte. Es war Sonntagmittag, High Noon sozusagen, und es ging um den Ausschluss oder Nichtausschluss eines türkischen Abgeordneten, der im Streit über die Gräuel, die die Türkei in den Jahren 1915/16, also während des Ersten Weltkriegs, an den Armeniern begangen hatte.

Während die meisten Historiker die Verfolgung und Tötung von um die eine Million Armeniern durch Massaker und Todesmärsche als einen der ersten systematischen Genozide des 20. Jahrhunderts anerkennen, wehrt sich die offizielle türkische Politik bis heute heftig gegen die Einordnung der Verbrechen gegen die Armenier als Völkermord.

Tugrul Selmanoglu, so hieß der türkische Abgeordnete der Generalversammlung, hatte unmissverständlich die Position der aktuellen türkischen Regierungspartei, der AKP, vorgetragen, als deren Vertreter er auch vorgestellt worden war. Diese Sicht bestreitet entschieden, dass es sich bei den Vernichtungsaktionen gegen die Armenier, die niemand bestreiten kann, weil sie sehr gut dokumentiert sind, um einen Völkermord handelt.

Im Gegenteil: In der Darstellung Selmanoglus wurden die Aktionen der Türken gegen die Armenier zu Verteidigungstaten gegen vorangegangene Untaten der Armenier gegen die Türken. Selmanoglu blieb dabei nicht stehen, er verband seine Statements mit der Frage, warum man sich hier überhaupt mit den Völkermorden der Vergangenheit beschäftigt, anstatt die Völkermorde der Gegenwart zu untersuchen.

Nach seiner Rede, die er merkwürdig ungestört halten konnte, gab es deutliche Proteste. Ein kurdischer Abgeordneter empfahl dem Redner, sichtlich und hörbar mitgenommen, sich zu schämen, und andere forderten den Ausschluss Selmanoglus, der darauf die Bühne verließ.

AKP-Redner auf der Bühne

Im Laufe des Streits, in dem es auch darum ging, ob es demokratisch sei, eine unbeliebte Position auszuschließen oder eben nicht, war einer der Abgeordneten aufgestanden und hatte in die Versammlung und ins Publikum gerufen: „Wir machen doch hier Theater.“ Worauf ein anderer sehr ernst und klar feststellte, dass das hier für viele Teilnehmer kein Thea­ter sei. Und das war einer der vielen schönen Momente dieser drei Tage in der Schaubühne. Denn entscheiden ließ sich die Frage, ob das hier Theater war oder nicht, tatsächlich nicht.

Eindeutig Theater war nur der Raum, die Schaubühne in Berlin. Schon das Publikum war nicht mehr so eindeutig Theater, dazu war es viel zu jung, zu weiblich und zu wenig territorial. Niemand im Publikum trat auf, als hätten er oder sie ein Erbpachtrecht auf Anwesenheit, das einen mit dem ausschließenden Musterblick ausstattet, der den Fremden oder Laien zu identifizieren erlaubt.

Trennung von Gegenwart

und Zukunft sollte hier

als inexistent gelten

Und auch der Regisseur war nicht Peter Stein, Frank Castorf oder Claus Peymann, als er, komplett unsouverän und verunsichert, während des Streits auf die Bühne trat und sich dafür entschuldigte, einen Genozidleugner eingeladen zu haben. Ein Akt, der Rau dann auch gleich um die Ohren gehauen wurde, als ihm einer der Abgeordneten versicherte, dass er Rau und die Organisatoren bereits Wochen vor der Veranstaltung darauf hingewiesen habe, was für einen Typen sie sich da eingeladen hätten, nämlich einen AKP-Lobbyisten, wenn nicht sogar Propagandisten.

Transparenz war für diesen Moment ein viel zu abgelutschtes Wort, denn sehr wahrscheinlich gibt es solche Vorwarnungen oder Anzeigen vor jedem Kongress, sei er wissenschaftlich, künstlerisch oder politisch. Hier wurde es zum Thema, und das ohne Regieanweisung.

Wie man überhaupt über diesen Sonntagnachmittag zwei Worte schreiben konnte, die selten zusammen auftreten, nämlich Höflichkeit und Negation. So hatte im Vorlauf zum Streit der aus Tansania stammende Aktivist Mnyaka Surunu Mboro auf die mehr als 8.000 Schädel hingewiesen, die in den Depots der Stiftung preußischer Kulturbesitz lagern und die mehrheitlich aus Afrika widerrechtlich zu sogenannten Rasseforschungen nach Deutschland gebracht worden waren.

Lenin und Science-Fiction

Bei den während der deutschen Kolonialbesetzung von 1905 bis 1917 aus Tansania entwendeten Schädeln handelte es sich häufig um Widerstandskämpfer, die man erhängt oder sonst wie getötet hatte. Ihre Schädel hatte man dann nach Deutschland geschickt und die Gebeine kopflos verscharrt. Mboro forderte deshalb vollkommen zu Recht die Köpfe zurück, er drang aber auch auf eine zu erledigende Provenienzforschung.

Die Frage, warum das noch nicht längst geschehen sei, beantwortete Mboro dann mit dem knappen Hinweis, dass dafür in Berlin das Geld wohl fehle, während sie es für den Bau eines Schlosses allerdings schon hätten. Das war einer der vielen Berührungspunkte mit der Wirklichkeit beziehungsweise dem Realen, die in diesen drei Tagen nicht nur globale, sondern auch alle möglichen lokalen Realitäten aufscheinen ließen, ohne sie in Metaphern oder klassischen Redewendungen zu verkleiden.

Die Direktheit der Ansprache, vorgetragen im Ton sicherer Höflichkeit, machte den Anspruch der Generalversammlung zu einem eher zweitrangigen Aspekt. Nach dem Vorbild der Generalversammlung des dritten Standes von 1789, die als Beginn der Französischen Revolution bekannt ist, sollten hier 60 Abgeordnete aus allen Kontinenten so etwas wie ein Weltparlament bilden, das eine zukünftige Weltregierung durch Reden, Gegenreden, Satzungen und Manifestationen erprobte. Dabei war es Rau wichtig, in seiner Eröffnungsrede darauf hinzuweisen, dass hier eine Trennung von Gegenwart und Zukunft in gewisser Weise als inexistent gelten sollte.

Zukünftige Formen des Zusammenlebens und Zusammenregierens sollten nicht in die Ferne der Science-Fiction verlegt werden, wie es die Leninisten bis heute tun, sondern gegenwärtig aus ihrem Larvenstadium in die Erprobung überführt werden. Rau hat dabei bewusst auf jede Form von Schocktheater verzichtet, für das er nicht nur durch seine Stücke über den Völkermord in Ruanda und die Korruption im Kongo als Spezialist gelten kann.

Ewiger Wahlkampfmodus

Die Form des Parlaments, mit begrenzten Redezeiten, einem kontrollierenden Vorstand und den Abgeordneten in den ersten Reihen des Theaters erwies sich als genauso gut gewählt wie die Einladung von durchaus in der Repräsentationsmaschine der Staatsapparate erprobten Gästen wie dem AKP-Mann oder der Vorsitzenden der Partei Die Linke, Katja Kipping.

Im Parlament der normalerweise Nichtrepräsentierten, wie dem Abgesandten der Maulwürfe, fiel Kipping vor allem durch ihre durchtrainierte Professionalität in Körperpräsenz und Rede auf. Wahrscheinlich ist das ihr Seinsmodus und wahrscheinlich würde sie auch in einem privaten Geburtstagsständchen in diesen ewigen Wahlkampfmodus verfallen.

Warum es auch so schwer ist, aus Parlamentsreden und -gesten gute Kunst zu machen, es sei denn, man holt sie direkt in den Kunstrahmen, wie Milo Rau es getan hat. Es war schon wunderbar, Kipping vor und nach ihrer Rede in diesem körperlich angespannten Präsenzmodus der eifrigen Aufmerksamkeit zu beobachten. Mit jeder Zelle das Gegenteil von Oskar Lafontaine und Winston Churchill.

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