Wandel in der DDR: „Anarchie ist machbar, Herr Nachbar“

Punks, Freigeister und Anarchisten in der DDR kämpften für den Wandel des Sozialismus. In Geschichtsbüchern liest man kaum etwas über sie.

Zwei junge Männer gucken aus einem Fenster

Wollten den sozialistischen Wandel: Harald Vollmann (l.) und Silvio Meier beim Kirchentag von Unten Foto: Gabriele Trier/Robert-Havemann-Gesellschaft

Als Silvio Meier, ein 21-jähriger gelernter Werkzeugmacher aus Quedlinburg, 1986 nach Ostberlin zog, kannte er dort fast niemand. Der kleine Mann mit den großen Ideen fand eine leer stehende Wohnung in der Friedrichshainer Bänschstraße. Wie viele Ostberliner Mietskasernen war die Zweiraumwohnung mit Kohleofen, dafür aber weder mit Bad noch Dusche oder Telefon ausgestattet.

Die misera­blen Lebensbedingungen waren für Meier jedoch nicht das Problem. Was ihn beschäftigte, war die offensichtliche Ziellosigkeit dieser erdrückenden, erstarrten und politisch durch und durch korrupten DDR. Als Idealist wollte er nicht mehr und nicht weniger als einen Wandel des Sozialismus erwirken, egalitärer und radikal-demokratisch sollte er werden – dass dieser Wandel weder aus der SED noch aus der Provinz heraus entstehen würde, war ihm klar.

Meier hätte sich natürlich nie vorstellen können, dass die Mauer drei Jahre später fallen und die DDR mit ihr gleich ganz von der Landkarte verschwinden würde, zusammen mit jedweder Möglichkeit eines wie auch immer gearteten Sozialismus in Ostdeutschland. Doch Meier und seine Mitstreiter aus der anarcho-aktionistischen Gruppe „Kirche von Unten“ spielten eine zentrale Rolle bei den Ereignissen, die die DDR-Diktatur delegitimierten und ihren Sturz ermöglichten. Nur liest man darüber nichts in den heutigen Geschichtsbüchern.

Die Geschichte dieser Gruppe von Dissidenten, wie auch die der jungen Aktivisten innerhalb und außerhalb der Leipziger Nikolaikirchengemeinde (erzählt in Peter Wensierskis Buch „Die unheimliche Leichtigkeit der Revolution“), findet kaum Erwähnung in Main­stream­darstellungen des Mauerfalls. Zu Unrecht.

Ansprechpartner für unautorisierte Gigs

Über Freunde von Freunden hatte Meier von dem Mischmasch aus Wehrpflichtverweigerern, Punks und anderen Außenseitern erfahren, die sich in einem Keller hinter der Berliner Erlöserkirche trafen. Vor dem Krieg hatte die Kirche eine Krankenstation auf dem Gelände betrieben. Eine Bombe der Alliierten hatte diese dem Erdboden gleichgemacht, übrig blieb nur ein Keller, überdacht vom übrig gebliebenen Fußboden. Die kalten, dreckigen Räume waren alles andere als ansehnlich.

Die Gruppe gab ihnen den Spitznamen „Nachtpott“, andere nannten sie auch den „Leichenkeller“, doch diese Räume waren alles, was die jungen Leute hatten. Der Großteil der Aktivitäten der Ostberliner Untergrundbewegung spielte sich unter den Fittichen der protestantischen Kirche ab, die einen Balanceakt zwischen offener Opposition und pragmatischer Koexistenz mit dem Staat zu vollziehen versuchte.

Der kleinste gemeinsame Nenner war die Verpflichtung auf die direkte Demokratie und zur permanenten Diskussion

Im „Nachtpott“ schloss sich Meier rasch der Punkszene an, die unter Polizeiüberwachung stand und sich regelmäßigen Schikanen ausgesetzt sah, wenngleich sich der Staatsapparat nicht traute, die Szene zu zerschlagen. Meier machte Bekanntschaft mit anderen, wie dem 23-jährigen Dirk Moldt, einem ernsten, kraus­haarigen, bebrillten Kopftypen, dessen Frustration über das System und Glaube an etwas ­Besseres mit Meiers Ideen im Einklang standen. Und er traf dort auf Speiche, DDR-­Vorzeigepunk,­dessen Zusammenstöße mit Neonazis und der Volkspolizei in der Szene legendär waren.

Meier selbst wurde zentraler Ansprechpartner für unautorisierte Gigs von Bands wie Die Firma, Wartburgs für ­Walter und Antitrott. Sie schrien verbotene Texte aus vollem Halse und sangen über Skinheads in der DDR, eines der vielen Tabuthemen im antifaschistischen Staat. Weil sie in ostdeutschen Clubs nicht spielen konnten, fand Meier ihnen Bühnen auf Kirchengeländen und leeren Hinterhöfen.

Zusätzlich zu Musik und Partys sprachen die unbeugsamen Anarchos und Aufbegehrenden im „Nachtpott“ über Politik, lasen und diskutierten anarchistische Traktate und planten Ak­tio­nen zur Bloßstellung des Re­gimes. Doch die selbst zusammengezimmerten Kellerräume der Erlöserkirche und die Handvoll ähnlich Unzufriedener waren ihnen nicht genug.

Verpflichtung auf die direkte Demokratie

„Wir wussten, wir brauchen unseren eigenen Freiraum, um etwas zu bewegen“, erklärt Moldt, der wie Meier in Teilzeit bei der Volkssolidarität arbeitete und Senioren heiße Mahlzeiten auf zwei Rädern brachte. „Wir wurden von einer Kirche zur nächsten geschickt, aus Cafés rausgeschmissen. Es war unmöglich, die Gruppe zusammenzuhalten, geschweige denn irgendetwas dauerhaft in Gang zu setzen. Die Kirche war die einzige Institution mit dem nötigen Freiraum, doch nur eine Handvoll der mutigsten Pfarrer war bereit, uns zu unterstützen. Dann brauchte es nur eine Meinungsverschiedenheit, und schon standen wir wieder auf der Straße.“

Kirche von Unten wurde im Herbst 1987 ins Leben gerufen und sollte ursprünglich ein Mittel sein, Druck auf die Kirchen auszuüben, damit diese sich klarer gegen das Regime positionierten. Doch die Gruppe um Meier und Moldt, gestärkt durch Neuzugänge wie Kathrin Kadasch vom Friedrichsfelder Friedenskreis, steuerte die Gruppe in Richtung eines lebhaften Widerstands gegen das Regime.

Der Anarchismus hatte unterschiedliche Bedeutungen für die Mitglieder der Truppe. Doch der kleinste gemeinsame Nenner war die Verpflichtung auf die direkte Demokratie und zur permanenten Diskussion. Meier und seine Mitstreiter waren keineswegs in politische Theorie versunken. Sie alle kamen aus dem Handwerk, Moldt war gelernter Uhrmacher, Kadasch Erzieherin, Speiche Bäcker. Und Anarchismus war Tabu im dogmatischen DDR-Sozialismus. Dennoch hatten sie alle die paar Anarchoklassiker gelesen, die eines der Mitglieder, ein Handwerker der Universität, aus einem Schließfach der Humboldt-Unibibliothek mit verbotenen Werken entwendet hatte.

Die Gruppe hatte trotzdem noch immer keinen eigenen Raum, den sie von der Kirche eingefordert hatte. Sie drohte, das Kirchengrundstück zu besetzen und in Hungerstreik zu treten. Die Kirchenoberen gaben schließlich nach und überließen ihnen zwei Büroräume in der Sankt-Elisabeth-Kirche in der Invalidenstraße.

Ein neues Kapitel hatte begonnen. Gleich als erstes drückten sie Café, Club und Hauptquartier ihren Stempel auf, Letzteres tauften sie die „KvU“. Mit Vorschlaghämmern rissen sie Wände ein, um Platz für Konzerte zu schaffen. Alle Wände wurden schwarz gestrichen, die Fensterrahmen rot. Der Pfarrer der St.-Elisabeth-Kirche, ein ängstlicher Typ, war von Anfang an abgeneigt und machte auch später keinen Hehl aus seiner Verärgerung über den Untergrundpunkclub, den er nun in den Hinterräumen seiner Gemeinde betrieb.

Das Programm der KvU begann mit einer umstrittenen Benefizveranstaltung zugunsten der Opfer eines Erdbebens in Armenien. Umstritten, da die DDR als sozialistischer Alliierter der Sowjetischen Republik Armenien eine derartige Veranstaltung gut und gerne selbst hätte sponsern können. Die Frage war: Was ist unsere Beziehung zum „real existierenden Sozialismus“? Die KvU-Truppe wollte einen besseren, direktdemokratischen Sozialismus – nicht leninistischen, demokratischen Zentralismus und auch nicht westliche Demokratie. Schlussendlich zogen sie ihren Armenien-Gig durch: Hungrige, vertriebene Menschen waren hungrige, vertriebene Menschen, ungeachtet der Beziehung der DDR zur Sowjetunion.

98,85 Prozent für die Einheitsliste

Als der Stein erst einmal ins Rollen gekommen war, gab es kein Halten mehr. Das Café und die Bibliothek der KvU öffneten ihre Türen, und ein Event folgte aufs andere. Lesungen und Sketch­abende und situationskunstartige Happenings. Verbotene Punk- und Postpunkbands wie Die Firma durften regelmäßig spielen. Aus Polen, Ungarn und der ganzen DDR reisten Bands an, um in der KvU aufzutreten.

Dieser Text stammt aus der taz.am wochenende. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder gleich im praktischen Wochenendabo. Und rund um die Uhr bei Facebook und Twitter.

Ein einschneidendes Datum war der 7. Mai 1989. KvU gehörte zu einer Handvoll junger Dissidentengruppen, die die DDR-Kommunalwahlen als Chance sahen, das Regime bloßzustellen. Kirche von Unten, Friedenskreis Weißensee, die Umweltbibliothek und einige andere machten auf eine wenig bekannte Klausel im Wahlrecht aufmerksam, die der Öffentlichkeit das Recht einräumte, die Auszählung zu beobachten. „Das war ein Recht, das wir auf dem Papier hatten“, erklärt Silke ­Ahrens. „Viele von uns sahen es als Witz. Aber warum es nicht versuchen?“ In Mitte, Friedrichshain, Weißensee und Prenzlauer Berg hatten die Aktivisten mehr als hundert Leute am Start, zwei bis drei pro Wahllokal.

Zur Überraschung aller durften die selbst ernannten Wahlbeobachter tatsächlich bezeugen, wie die freiwilligen Wahlhelfer die Ergebnisse auszählten. Alle Ostberliner Beobachter kamen in der KvU mit ihren Resultaten zusammen. Die Zählung ergab, dass es zehn bis zwanzig Prozent Gegenstimmen gegeben hatte. Die KvU-Truppe dachte, dass der Staat so unmöglich behaupten könnte, 99 Prozent Jastimmen erhalten zu haben, wie es jedes Jahr der Fall gewesen war. Und doch trat Egon Krenz auch an diesem Abend vor die Fernsehkameras und verkündete ein Ergebnis von 98,85 Prozent für die Einheitsliste der Nationalen Front.

„In dem Moment wussten wir, wir haben sie“, sagt Jolly, eine der protestantischen Sozialarbeiterinnen aus dem Umfeld der KvU. Sie machten die Fälschung öffentlich, die Westmedien griffen das Thema auf: Die Wahl war manipuliert, die Resultate waren gefälscht, die Partei hatte gelogen. Die DDR-Spitzen waren zu fassungslos, um zu reagieren.

Der Wahlbetrug und die verbissene Kampagne, die folgte, sorgten für einen dramatischen Profilgewinn der Oppositionsgruppen, mit denen viele bis dato nur vage vertraut gewesen waren. Zudem bewies die Aktion, dass es möglich war, den Staat frontal anzugreifen – und zu gewinnen.

Stasi und Bereitschaftspolizei mit Wasserwerfern

Ein solcher Akt der Provokation war noch nie unbestraft geblieben, doch diesmal folgten keine Festnahmen. Der vermeintlich allmächtige Staat war verwundet ins Wanken geraten. Den Sommer hindurch und in den Herbst hinein hatte Leipzig im Fokus der Oppositionsbemühungen gestanden. Das änderte sich am 7. Oktober, dem Tag der Feierlichkeiten zum 40. Jubiläum der Gründung der DDR. Silvio, seine Partnerin Chrischi, Speiche, Jolly und andere trafen sich an diesem Nachmittag am Alexanderplatz zum Demons­trieren.

Jolly, Kirche von Unten

„Wir wussten nicht, ob die Revolte begonnen hatte oder das Kriegsrecht ausgerufen worden war“

Im bereits angespannten Klima dieser Wochen eskalierte die friedliche Demonstration, die Sicherheitskräfte wurden handgreiflich. Von allen Seiten griffen Polizei, Stasi und Rowdys aus der FDJ nach Demons­tranten, schlugen sie zu Boden und zwangen sie in Polizeiwagen.

„Sie hatten uns in der Falle, eingekreist“, berichtet Chrischi. „Wir konnten die anderen auf der gegenüberliegenden Seite der Polizeikette sehen, und wir wussten, wir müssen es irgendwie hindurchschaffen. Dann entschieden wir uns plötzlich loszurennen, so schnell wir nur konnten. Es funktioniert, dachte ich zunächst. Gerd und ich schafften es unbeschadet durch die Menge, doch im Zusammenstoß wurden wir getrennt. Ich verlor Silvio. Ich konnte ihn nirgends mehr sehen.“

Sie vereinigten sich wieder zu einer Einheit, nun ohne Silvio und einige andere, die die ­Sicherheitskräfte sich geschnappt hatten. Die wütende Menge zog weiter gen Prenzlauer Berg, wo andere Demonstranten in der Gethsemanekirche kampierten und einen Hungerstreik im Namen politischer Gefangener abhielten.

Die Polizei versuchte wieder, den Marsch zu stoppen, indem sie Kreuzungen blockierte, Stasi und Bereitschaftspolizei kämpften mit Wasserwerfern gegen die Menge an. Frauen wurden zusammengeschlagen, Passan­ten verletzt, Knochen mit Schlagstöcken gebrochen. Ein Panzerwagen nach dem anderen wurde mit Demonstranten in Handschellen gefüllt.

Zu diesem Zeitpunkt befand sich Meier in einer Arrestzelle mit Hunderten angeschlagenen und verängstigten Menschen, die sich alle fragten, ob ein Massaker wie das auf dem Platz des Himmlischen Friedens stattfand. „Wir wussten nicht, was geschah“, sagt Jolly, die bereits früher am Tag festgenommen wurde und kurz mit Silvio im Hof des Gefängnisses hatte sprechen können. „Wir wussten nicht, ob die Revolte begonnen hatte oder das Kriegsrecht ausgerufen worden war.“

Fahnen wehen am Alexanderplatz

Jolly und Silvio wurden eine Woche später entlassen. Wie später klar wurde, steckte das Regime in der Krise. Es nahm Abstand von der gewalttätigen Lösung und begann, mit der Opposition zu verhandeln. Doch auch das beruhigte die Gemüter nicht: Die friedliche Revolution brach jetzt erst richtig los. Kirche von Unten war eine von ­Dutzenden Gruppen, viele davon neu formiert, andere mit zahlreichen neuen Mitgliedern, die ihre ­goldene Stunde gekommen sahen. Bei der Massenkundgebung am 4. November am Alexanderplatz marschierten die KvU und andere Seite an Seite mit rot-schwarzen Fahnen und Bannern mit der Aufschrift „Anar­chie ist machbar, Herr Nachbar!“

Als die Mauer fiel, trafen sich Chrischi und Silvio mit dessen Bruder Ingo, der wegen Staatsgefährdung aus der DDR ausgewiesen worden war. In Westberlin hatte sich Ingo den Autonomen angeschlossen. Nun schlug er Silvio und Chrischi vor, sich anzuhören, was Helmut Kohl in dieser historischen Nacht zu sagen hatte. Andere Autonome schlossen sich der Gruppe an und verteilten sich in der Menschenmenge vor dem Schöneberger Rathaus.

Inmitten der Rede begannen Ingos Kumpane, den Kanzler zu beschimpfen und das Podium mit Tomaten zu bewerfen. Polizisten mit Schlagstöcken drangen in die Menge ein. Chrischi mit ihren hennagetönten Haaren und ihrer Lederjacke wurde in der Menge verwechselt, jemand schlug auf ihre Schulter ein und zerrte sie zur Befragung zur Seite. Die betroffenen Polizisten waren peinlich berührt, sagt sie, als sie ihren DDR-Pass vorzeigte. Und ließen sie laufen.

Im folgenden Jahr besetzte die KvU ein Gebäude in Friedrichshain und bemühte sich, ihre anarchistische Politik im Tumult des Übergangs fortzusetzen. Dass es ein Übergang zur Vereinigung werden sollte, hatten sie nicht geahnt.

In der Nacht des 21. November 1992 wurden Silvio Meier und drei andere von Neonazis in der U-Bahn-Station Samariterstraße angegriffen. Meier starb, bevor der Rettungswagen das Krankenhaus erreichte. Eine Straße im Bezirk Friedrichshain ist heute nach ihm benannt in Anerkennung seines Engagements gegen den Rechtsextremismus.

Übersetzung: Lisa Dittmer

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ist ein in Berlin lebender US-Schriftsteller. Jüngst erschien „Berlin Calling: A Story of Anarchy, Music, the Wall and the Birth of the New Berlin“. The New Press, 2017.

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