Die Spuren des Kommissar Dupin: Wie es im Buche steht

In der Bretagne wollen deutsche Touristen in die Welt des Kommissar Dupin eintauchen. Die Probleme eines Reiseleiters im Schatten eines Autors.

Menschen in Gassen

Musste es ausgerechnet die Bretagne sein? Ausgerechnet dieser pittoreske Küstenort Concarneau? Das fragt sich der aus Paris strafversetzte Kommissar Dupin Foto: imago/Sabine Gudath

„Trinken Sie Ihren Kaffee bitte nicht hier!“, fleht Yann die Reisegruppe an und schiebt allesamt am Restaurant L’Amiral vorbei. „Es gibt wunderbare, andere Möglichkeiten in Concarneau!“ Einer der Touristen fasst sich ein Herz und fragt, ob es da einen Skandal gegeben hätte. Das Lokal sähe doch wahrlich nett aus. „Ja“, antwortet der Guidemit fester Stimme, „der Skandal sind die Urlauber: Alle, aber auch alle wollen in dieses eine Restaurant. Und das, weil ein gewisser Kommissar Dupin dort seinen Kaffee schlürfte!“

Yann macht sich Luft, immer wieder würde er Deutsche treffen, die die Bretagne bereisen, weil sie die Krimifolgen von Jean-Luc Banalec gelesen haben und nun die Spur von Dupin aufnehmen wollen. Dort sein, wo er war, nicht links, nichts rechts davon abweichen.

„Nur, den Kommissar gibt es doch nicht wirklich!“, stöhnt der junge Bretone genervt, „und ob der Autor selbst zwecks Recherche in all den Bistros und Bars saß, die er beschrieben hat, weiß man nicht.“

Bücher als Wegbereiter

Yann erzählt vom befreundeten Schwesternpaar Camille und Mathilde Vermynck, denen das Restaurant „San Francisco“ auf der Île aux Moines im Golf Morbihan gehört. Die waren einem Nervenzusammenbruch nahe, da anscheinend alle deutschen Besucher, die sich vom Festland auf die Insel übersetzen ließen, zu ihnen strömten. Und schließlich darauf bestanden, auf der Terrasse zu sitzen und eine Lammterrine mit Feigen zu essen. So wie es im Buche stand. Da sowohl Terrassenplätze als auch die Lammkoteletts knapp sind, kam es des Öfteren zu Rangeleien.

„Mein Vorschlag: Lassen sie den fiktiven Dupin seinen Job machen, wir machen unser eigenes Ding, d’accord?!“

Yann kann es sich jedoch nicht leisten, seine Gefolgschaft völlig vor den Kopf zu stoßen, und so greift er den Gedanken auf, dass uns Bücher natürlich anregen können, Schriftstellern zu folgen, und wir sie sozusagen als Wegbereiter auswählen. Doch dann sollte man sich eine „echte“ Figur aussuchen.

Gustave Flaubert

Zeit haben, sich treiben lassen. Frei sein und sich nicht mehr um seine kalten Ecken des Denkens zu bewegen, die ausweglos kreisen

„Wie wär’s mit Gustave Flaubert?“, fragt der belesene Student in die Runde. Noch nie gehört? Der reiste durch die Bretagne mit offenen Augen, spitzer Feder, begleitet von seinem Freund Maxime du Camp. Vor genau 170 Jahren. Er schrieb mit ihm ‚Über Felder und Strände‘.“ Durch Concarneau kam er übrigens auch.

Yann hatte einen Aufhänger gefunden, um die Kommissar-Dupin-Fährte zu verlassen. So führt er seine Gruppe nicht krimigemäß durch, sondern um die frequentierte, weil allseits berühmte Ville close herum.

Auch Flaubert war hier

Ein guter Plan, denn der einzige Zugang zur alten Festungsstadt, eine kleine Zugbrücke, ist bereits am Morgen von Touristenströmen zugestopft. Bei 1,5 Millionen Besuchern im Jahr kein Wunder. Von außen jedoch lassen sich die grauen Granithäuser mit ihren bunten Fensterläden viel entspannter anschauen. Außerdem ist man jenseits der Ville close dichter am Hafen und kann beobachten, wie Fischer die Eistankstelle anzapfen, um ihren Fang kühl zu lagern.

„Übrigens“, nimmt Yann den Faden wieder auf, „als Flaubert hier war, gab es in meiner Muttersprache Sprache kein Wort für Bonjour. Mit einem Bretonen kam nur ins Gespräch, wer vom Wetter anfing. Interessiert nun mal jeden.“ Klar, Dauerthema, besonders der ewige Regen. Es schüttet eben häufig hier, doch warum sich darüber beklagen? Yann hebt seine Arme hoch und zitiert Flaubert: „… der Blick verlor sich schnell im düsteren Ton des von tausend Regenstrichen vollgekritzelten Himmels!“

Selbst wenn es pladdert und aus Kannen gießt, auch dann sei es hier impressionnant! Dieses milchig graue Licht hätte etwas Melancholisches. Da es gerade nicht gießt, doch ein penetranter Nieselregen fällt, schlägt der Guide vor, das Marinarium aufzusuchen, Europas erste Meeresforschungsstation, die Concarneau bereits im 19. Jahrhundert ein wenig berühmt machte.

Yann führt seine Leute zum „Fischkindergarten“, der zeigt, dass es gar nicht so leicht ist, groß zu werden im großen Ozean, ob als Seepferdchen, Krabbe oder Riesenfisch. Alles beginnt winzig und muss sich durchsetzen in der gefräßigen Welt.

Das Schiffhotel

Am frühen Nachmittag schon drängt der junge Mann darauf, im Hotel einzuchecken, da dies ein besonderer Ort sei. Wer das Hôtel Ker Mor betritt, wähnt sich in einem Schiff: Steuerrad, Navigationsgeräte, Bootsschilder.

Einige der Zimmer sind eng wie Schiffskabinen, mit Bullaugen, absichtlich schief hängenden Bildern, die moderaten Wellengang suggerieren. Das Fenster dicht am Meer lässt das Gefühl aufkommen, im Bett mit ausgestreckten Beinen den Strandsand zu berühren. In diesem maritimen Ambiente direkt am Ozean ist die Nacht fast zu schade, um nur zu schlafen.

Aus den Lautsprechern des Restaurants tönt „L’autre Finistère“, ein romantisches Liebeslied von „Les Innocents“, die „Unschuldigen“. Die Band gibt es längst nicht mehr, aber das Lied ist so etwas wie eine moderne Hymne, denn Concarneau liegt im südlichen Finistère.

Jene französische Bezeichnung ist aus dem Bretonischen entlehnt und heißt ursprünglich: „Penn-ar-Bed“. Was so viel wie „Anfang der Welt“ bedeutet, nicht wie oft behauptet „Ende der Welt“. Yann gefällt das, seine Heimat ist für ihn Anfang und Nabel der Welt.

Yann lässt abstimmen, wer morgen nach Pont-Aven möchte, in die ehemalige Künstlerkolonie von Gauguin. Dort hat der Meister sein berühmtes „Selbstporträt mit gelbem Christus“ gemalt. Gegen den Besuch spräche: Pont-Aven ist dupinisiert und feiert inzwischen mehr den Kommissar als den Maler. Ein Seufzen geht durch die Runde.

Yann fühlt sich nun herausgefordert, im Namen seiner Landsleute, das Fremdeln mit Fremden zu erklären: „Wir Bretonen sind etwas dickköpfig, widerborstig mitunter, tun uns in Wirklichkeit schwer mit der gewachsenen Neugier an unserer Region.“ Bereits zu Flauberts Zeiten folgte nach seiner ersten Entdeckungsreise ein aufflammendes Interesse an der Bretagne. Damals erschien den Einheimischen jeder Fremde als einer zu viel, da man lieber unter sich blieb, man bislang auch nichts anderes kannte.

Die Austerzüchterin

Deshalb nervte es die Leute auch, als die Eisenbahn in die einst verschlafene Gegend fuhr: 1851 erreichte der erste Zug ­Nantes, die damalige Hauptstadt der Bretagne, vier Jahre später rollte die Dampflok in den Bahnhof von Brest. Zwar war es ein enormer Fortschritt, statt zuvor sechs Tage in der Kutsche brauchte man nur noch 40 Stunden von Paris hierher, doch Veränderungen lösen Ängste aus. So erschien in jenen Tagen eine Traueranzeige in der Tageszeitung, dass es mit dem Frieden nun wohl vorbei sei. Dazu der Aufruf, die Eisenbahngleise wieder zu entfernen und diesen ganzen modernen Technikkram rückgängig zu machen.

Das hätte Flaubert auch gerne so gehabt, denn schon die „Fratzen der Telegrafenmaste“ störten ihn ungemein, notierte er in sein Tagebuch. Der Schriftsteller war von einer Sehnsucht getrieben, Ursprünglichkeit zu erleben, wollte „nach einem von Wattewolken geflockten, klaren Himmel suchen oder auf der Rückseite einer weißen Klippe eines jener armen kleinen Dörfer entdecken, mit Holzhäusern, Wein, der die Wände hochrankt, Wäsche, die auf der Hecke trocknet, und Kühen an der Tränke“. So schrieb er.

Der Romancier wollte vorbei an Pferdemärkten, quietschenden Holzkarren, scheppernden Milchkannen und Müttern, die ihre Kinder entlausen. Er liebte es, durch geöffnete Türen zu spähen, in Zimmer mit offenen Kaminen und kastenförmigen Schrankbetten. Er beobachtete Männer, die mit Flegeln Stroh droschen, sah Spinnerinnen und Austernwäscherinnen bei der Arbeit zu.

Spinnerinnen sind inzwischen rar, Austernzüchterinnen nicht, es gibt hervorragende Spezialistinnen, wie Beatrice, die seit 20 Jahren eine eigene Zucht aufgebaut hat und Restaurants mit ihren vorzüglichen Schalentieren beliefert, unter anderem das nahe gelegene Meeresfrüchterestaurant Viviers de Banastère.

„Die Auster“, erklärt sie der Gruppe, „ist wie eine Pflanze, sie braucht Sonne und Regen, und man muss den Zeitpunkt der Ernte gut kennen: Mit drei Jahren ist sie noch zu jung, mit zehn zu alt zum Rohessen, dann sollte sie lieber gekocht werden. Vierjährig ist sie jedoch eine echte Delikatesse.“

Es folgt eine kleine Erläuterung: Kulinarisch gesehen werden Austern in flache und tiefe unterschieden. Die flachen sind milder im Geschmack, besonders aromatisch sind Sorten wie Bélon und Colchester. Die tiefen haben einen nussartigen, herben Geschmack, allen voran die Claires. „Hier, probiert mal!“, fordert sie auf und fischt einige aus den zahlreichen Becken. „Für mich sind sie kleine Wundertierchen, filtern Meereswasser, sind reich an Vitaminen, Magnesium und Calcium.“ Sie verteilt Zitronenscheiben, Baguette und schenkt Weißwein ein.

Sich treiben lassen

Abstecher zum Phare d’Eckmühl, einem der höchsten Leuchttürme Europas, mit 307 Stufen. Die Aussicht auf das Meer, die Küste und die Glénan-Inseln ist eindrucksvoll. Oben werden verschiedene Workshops angeboten, um den Rausch des weiten Blickes kreativ festzuhalten. Der Fotokurs ist der beliebteste. Hierbei geht es darum, die drei Farben der Nacht zu beobachten: den Sonnenuntergang, die blaue Stunde und das finstere Finistère samt funkelnder Sterne. Beobachten, wie sich auch das Meer verändert: Man sagt, das Meer sei meistens glaz, also nicht ganz blau, nicht ganz grün, so zwischendrin, schwer zu beschreiben.

Zum Abschluss geht es zur Île Tristan, einer 500 Meter langen und 250 Meter breiten Insel vor der Küste von Douarnenez. Scheinbar hatte Yann nicht alle Krimis von Kommissar Dupin gelesen, jedenfalls setzte er sich mit diesem Ausflug direkt in die dupinisierten Nesseln. Doch hat dies wieder auch etwas Gutes, weil seine Leute spüren, wie wohltuend es bislang war, vom Weg, also der Fährte des Kommissars, abzuweichen. Hier nun werden sie vom Ansturm eingeholt.

Wie viele Besucher auf einen Insulaner kommen, ist schnell errechnet – es gibt nur einen Einwohner auf der Île Tristan, der dauerhaft ansässig ist. Und das schon über viele Jahre: Gil entschied sich nach seiner Scheidung für das Einsiedlerleben, was tagsüber für ihn längst keines mehr ist. Gil zeigt den Ankommenden sein Reich: den botanischen Garten, die Obstwiesen, die Überreste der Festung und dieses alte Fürstinnenhaus.

Auch er verehrt Flaubert. Und er zitiert ihn vor Yanns Gruppe: „Zeit haben, sich treiben lassen. Frei sein und sich nicht mehr um seine kalten Ecken des Denkens zu bewegen, die ausweglos kreisen.“ Er hält kurz inne: „Eine zeitlos gute Einstellung. Oder?“

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