„Die Liberalisierung war gewaltig“

Vor dem möglichen Ende von Rot-Grün ein Blick zurück auf die intellektuelle Vorgeschichte dieses Projekts: Der Sozialwissenschaftler Claus Offe über den vulkanischen Jürgen Habermas, den maliziösen Niklas Luhmann, Renegaten und die Anpassungsgeschichte der bundesrepublikanischen Linken

INTERVIEW ALEXANDER CAMMANN
, JENS HACKE
UND STEPHAN SCHLAK

taz: Herr Offe, Sie gehören der Zwischengeneration der Kriegskinder an, waren kein Flakhelfer und sind für einen Achtundsechziger ein wenig zu früh geboren. Was ist Ihre prägende Generationserfahrung? Die 50er-Jahre wurden lange als muffige Restaurationszeit verdächtigt. Heute werden sie eher liberal gezeichnet.

Claus Offe: Das Attribut Liberalität würde mir zum CDU-Staat der 50er-Jahre nicht einfallen. Ein wichtiges Politisierungserlebnis hatte ich 1959 in der Kölner Mensa. Dort lag die Zeitschrift Konkret aus, die zu jener Zeit von Ulrike Meinhof und Klaus-Rainer Röhl geleitet wurde. Man las hier Dinge, die man im Nachkriegs-Adenauer-Milieu nicht für möglich gehalten hatte, politisch wie auch literarisch. Das war eine Zeit, in der es von Marx nichts gab; von Freud ganz wenig, richtige Studien der Psychoanalyse überhaupt nicht. So erklärt sich auch die außerordentliche Bedeutung von Adorno und der Frankfurter Schule. Sie machen sich heute kein Bild davon, in welchem Maße wir gleichgeschaltet waren unter den Bedingungen des Kalten Krieges. Thomas Mann zu lesen, das war schon an der Grenze; Brecht war praktisch jenseits des Erlaubten.

Sie haben später an der FU Soziologie studiert. Jürgen Habermas holte Sie Mitte der Sechziger als Assistent nach Frankfurt.

Im Sommer 1962 hatte ich seinen „Strukturwandel der Öffentlichkeit“ innerhalb einer Woche verschlungen. Mir war damals schon klar, dass Jürgen Habermas die intellektuelle Potenz für Leute wie mich war.

Der mahnende Habermas und die Studentenrebellen standen 1968 auf unterschiedlichen Seiten der Front.

Am Tag nach der Erschießung Benno Ohnesorgs habe ich ihn morgens angerufen und zu einer öffentlichen Erklärung gedrängt. Da war er etwas muffig, vielleicht auch weil ich ihn am Samstagfrüh gestört habe. Die Studenten waren damals, und ich nicht weniger, davon überzeugt, in einer historischen Wende zu leben, in der die Alternative „Sozialismus oder Barbarei“ auf der Tagesordnung stand. Dann hat Habermas in der berühmten Auseinandersetzung mit Dutschke am 9. Juni 1967 in Hannover seinen Linksfaschismus-Vorwurf auf die Revolte gemünzt und dabei das Abenteuerlich- Spekulative dieser Situationsdeutung bloßgestellt. Zugleich hat er eine Art, auf Menschen, die er für politisch irregeleitet hält, mit seiner äußerst scharfen Rhetorik einzudreschen und Konflikte so zur Eskalation zu bringen. Mein damaliger Assistenten-Kollege Oskar Negt war häufig Opfer solcher Auseinandersetzungen, bei denen man angesichts der vulkanischen Energie, mit der Habermas seine Sicht der Dinge zur Geltung brachte, einfach nicht gewinnen konnte.

Ich finde, dass Habermas in Hannover nichts Falsches gesagt hat. Es gab da eine perverse Gewaltbereitschaft im Namen von Entschlossenheit, Ernst der Situation und kompetitiven Authentizitätsbeweisen, die wir sonst nur von Faschisten kennen, diesmal von links. Das war Habermas zutiefst zuwider.

Wie Habermas’ „Legitimationsprobleme des Spätkapitalismus“ waren auch Ihre „Strukturprobleme des kapitalistischen Staates“ ein Klassiker der Siebziger, über 50.000-mal verkauft. Heute kommen uns diese Jahre, in der Sie ein düsteres Krisenszenario entwarfen, als paradiesische Zeit vor.

Unsere Denkimpulse richteten sich gegen die für selbstverständlich gehaltene amerikanischen Hegemonie, diese Geschlossenheit und „Eindimensionalität“, die Herbert Marcuse übertreibend charakterisiert hat. Alles, was unter der sozialliberalen Regierung Brandt als Reform daherkam, drehte sich im Kreise und verhedderte sich in praktisch nicht reformierbaren institutionellen und ökonomischen Gegebenheiten.

Trotzdem mutet seltsam an, dass Sie in der sozialliberalen Reformphase maßlos kritische Bücher schreiben.

Wieso „maßlos“? Wir versuchten eine Theorie über wünschenswerte Verläufe des politischen und ökonomischen Wandels links von der Sozialdemokratie zu formulieren. Daseinszweck der Sozialdemokratie ist es, das Marktgeschehen kapitalistischer Gesellschaften zu beschränken und an Regeln zu binden, und das stets im Rahmen des Machbaren und im Geiste einer geradezu biedermeierlichen Konfliktscheu. Der Marktverkehr und die Eigentumsgrundlagen werden selbst nicht infrage gestellt, sondern in ihrer Handhabung beschränkt. Heute sehen wir, dass die Kapazität, solche Beschränkungen zu verhängen, selbst eng beschränkt ist – Internationalisierung, Globalisierung, Finanzkrise sind die Stichworte.

Wer auf festem Grund des Machbaren und Realistischen zu stehen meint, der steht möglicherweise auf einer Eisscholle, auf der man ausrutschen oder die wegschmelzen kann. Die Leichtfertigkeit einer sozialdemokratischen Reformeuphorie hat uns damals provoziert, obwohl man sich heute noch viel mehr ärgern könnte über die semantische Perversion des Wortes „Reform“.

Damals gab es einen klaren Frontverlauf: hier die Neue Linke, dort die Neokonservativen. Heute hat sich die Neue Linke mit der Republik ausgesöhnt.

Mit der Republik hat die Neue Linke nie im Streit gelegen, sondern mit den kapitalistischen Deformationen der republikanischen Idee von politischer Autonomie. Die Emanzipation hat ja zu Teilen und für eine Weile durchaus stattgefunden, als stille Revolution des Postmaterialismus. Es hat eine gewaltige Liberalisierung gegeben, die mit Recht den Achtundsechziger- Kulturkämpfen zugeschrieben werden. Gleichzeitig gab es zwei Dinge, die uns nicht in den Kopf gekommen wären: Erstens einen backlash dieser Liberalisierung; nicht nur der fröhlich-naive Multikulturalismus ist passé, sondern auch die Geltung der Bürger- und Menschenrechte steht zunehmend unter Vorbehalten der Sicherheit. Zweitens kam es zu einer ungeahnten Dominanz der ökonomischen Kategorie des Marktverkehrs in allen Lebenssphären. Die jungen Leute haben ganz andere Probleme, als ihre sexuelle und sonstige Emanzipation von elterlichen und anderen Rollenvorstellungen und repressiver Moral zu betreiben. Von wegen Postmaterialismus! Es kommt darauf an, sich gut zu verkaufen und alles dafür zu tun, um mobil, flexibel und anpassungsfähig zu werden. Es gibt einen Schlüsselsatz von Niklas Luhmann, der 14 Jahre in Bielefeld mein Zimmernachbar an der Universität war: „Alles ist möglich, und nichts wird sich ändern.“ Ich hatte damals einen Geistesblitz, auf den ich eine Weile stolz war: „Herr Luhmann, der Satz könnte auch so lauten: ‚Alles ist möglich, und deshalb kann sich nichts ändern.‘“

Kein Grundlagentext der Neuen Linken kam damals ohne die Kritik an der Entfremdung aus. Heute singt die gewendete Neue Linke das Loblied der Entfremdung. Haben Sie sich auch von Ihren alten Texten entfremdet?

Ich blättere selbst nur selten in meinen alten Schriften. Ich habe dennoch nicht das Gefühl, dass irgendetwas in der Weise falsch ist, dass ich es als einen befremdlichen, auf zeit- und umstandsbedingter Täuschung beruhenden Gedanken zurückweisen und mich seiner schämen sollte. Insofern bin ich relativ gut dran, verglichen zum Beispiel mit den Kollegen und Freunden, die peinigende Damaskus-Erlebnisse zu verarbeiten hatten und dann oft eine Renegaten-Symptomatik entwickelt und sich auf das Gegenteil ihres früheren intellektuellen Selbst eingeschworen haben.

Nicht nur Jürgen Habermas hat spät in Helmut Kohl einen Generationsgenossen erkannt. Heute ist die alte Bundesrepublik für Linke nicht selten das gelobte Land.

Es gibt immer wieder Machenschaften von politischen wie ökonomischen Eliten wie auch von scheinbar normalen Leuten, die einem den Magen umdrehen – aber es gibt auch eine, verglichen mit dem politischen Milieu der 50er-Jahre, im Kern wohl doch irreversible Liberalisierung. So etwas wie die Spiegel-Affäre 1962 kann es eigentlich nicht mehr geben. Das führt bei mir zu einer Loyalität, zu einer Milderung des Misstrauens, die bei mir nicht ganz so weit geht, wie das bei Habermas explizit der Fall ist. Aber der Begriff des Verfassungspatriotismus, den Habermas von Dolf Sternberger übernommen und mit einer eigenen Deutung wiederbelebt hat, der ist auch für mich plausibler geworden.

Aber das frühere Misstrauen gegen die Staatsgewalt würden Sie nicht als lebensgeschichtlichen Irrtum verbuchen?

Ich habe diese Entwicklung zur liberalen Normalität nicht für so wichtig gehalten, wie ich sie heute halte, und für nicht so wahrscheinlich gehalten, wie man sie damals schon halten konnte. Wir waren auf einer anderen Strecke unterwegs; wir waren an Demokratie interessiert und nicht primär am Rechtsstaat – was auch damit zu tun haben kann, dass wir uns den beklagenswerten Luxus erlaubt haben, uns mit den Verhältnissen im Realsozialismus so gut wie nicht zu beschäftigen. Der Argwohn war ja – siehe Berufsverbote, siehe Deutscher Herbst 1977 – nicht völlig unbegründet, dass die Bundesrepublik durchaus macht- und krisenanfällig ist; sie kann allenfalls durch eine starke politische Linke gehütet werden.

Nochmals zu Ihrem Bielefelder Büronachbarn Niklas Luhmann: Sie sind als Systemkritiker gestartet und als Systemtheoretiker gelandet – ist das symptomatisch für die Neue Linke, die sich zufrieden im bundesrepublikanischen System eingerichtet hat?

Ihr Bild von der Neuen Linken ist von anrührender Schlichtheit. Denn es handelt sich mitnichten um ein Kartell von intellektuellen Aktivisten, dessen Marsch durch die Jahrzehnte man als einen geraden oder krummen Weg nachzeichnen könnte. Was mich angeht, so war ich seit meinem Studium fasziniert von der Systemtheorie, gerade auch in Luhmanns Version. Luhmann räumt auf mit der Selbstillusionierung politischer Eliten, mit der sie sich als Lenker und Gestalter an der Spitze des gesellschaftlichen Ganzen präsentieren. Mit dieser Erkenntnis kann man sich, wie Luhmann, in der Attitüde des maliziös Amüsierten zufrieden geben. Man kann sie aber auch zum Ausgangspunkt von Überlegungen darüber machen, unter welchen institutionellen Bedingungen und Machtverhältnissen sie nicht mehr zutreffen würde. Gerhard Schröder optiert für die erste Alternative, wenn er davon spricht, es gebe keine linke oder rechte Wirtschaftspolitik, sondern nur kompetente oder inkompetente Ökonomen. Diese allzu große Demut vor dem anonymen Walten der Systeme fliegen ihm jetzt zu Recht um die Ohren. Wenn Politik sich als das ausgibt, was sie nach Luhmann einzig und allein ist, nämlich ein selbstbezügliches Teilsystem unter anderen, dann macht sie sich buchstäblich unmöglich.