Die
toten Kinder
von Betlehem

Jacques Derrida war ein überängstlicher Vater. Einmal aber stellt ausgerechnet er die Ermordung eines Sohnes nach. Eine Bildbeschreibung

Tableau vivant nach dem Gemälde „Le massacre des Innocents“ (1628) von Nicolas Poussin. Das Originalgemälde und das Tableau vivant mit Jacques Derrida sind noch bis 7. Januar in der Domaine de Chantilly nördlich von Paris zu sehen Foto: DR/Valerio und Camilla Adami

VonTania Martini

Jacques Derrida hält ein Messer in der rechten Hand. Er setzt an, es auf den Sohn Jean niederzustoßen. Jean ist vielleicht acht Jahre alt, der Fuß des Vaters drückt ihn zu Boden. Marguerite Derrida, sie ist Psychoanalytkerin, will den gemeinsamen Sohn retten. Eine andere Frau dreht sich weg vom Geschehen. Es ist die Künstlerin Camilla Adami, ihr Ausdruck ist weder schmerzvoll noch gleichgültig, ihr Körper in einen Vorhang gehüllt, vielleicht schaut sie aus dem Fenster, vielleicht erblickt sie eine barocke Gartenanlage dort draußen.

Einer beobachtet die Untat. Er tut es kühl. Es ist Valerio Adami, verheiratet mit Camilla Adami und italienischer Pop-Art-Künstler. Seine Bilder hängen unter anderem im New York Grill in der 52. Etage des Park Hyatt Hotels in Tokio – eine Kulisse in dem Film „Lost in Translation“, Adamis entrückte Pop Art wirkt gut in dem Film.

Vier Erwachsene, ein Kind. Und ein Hund. Es ist Sommer, wahrscheinlich im Jahr 1975, der imposante Palazzo, in dem die Szene sich abspielt, liegt in den sanften Hügeln des Lago Mag­giore, er gehört den Adamis, und Künstler, Philosophen, Schriftsteller aus Mexiko, Israel und von überall her geben sich hier die Klinke in die Hand. Die Derridas kommen mehrere Sommer hintereinander hierher. An diesem Tag trägt Derrida bloß eine Unterhose und ein Badetuch, es deutet eine Toga an.

Es ist eine wahnsinnige Szenerie. Die Adamis lieben das Drama, die Choreografie, das Spiel, das Experiment, in dem die Teile eines Puzzles bewegt werden, um den Blickwinkel zu verändern. Sie inszenieren regelmäßig solche Tableau vivants nach klassischen Gemälden. In jenem Sommer also spielt Derrida den römischen Soldaten in der Todesszene, die der französische Barockmaler Nicolas Poussin um 1628 in dem Gemälde „Le massacre des Innocents“ dargestellt hat. Die deutsche Übersetzung des Gemäldetitels ist nüchterner: „Der bethlehemitische Kindermord“ spart sich den Verweis auf die Unschuld.

Die Tableau vivants müssen Derrida gefallen haben. Die Dekonstruktion verbindet ihn mit Adami. Zerlegen und neu zusammensetzen. Kontext und Intervention, Reproduktion und Mehrwert, ist die Malerei totale Fiktion oder gibt es eine Wahrheit in der Wahrnehmung des Künstlers, was ist der Text der Malerei und was unterscheidet ihn vom Diskurs, das interessiert ihn – auch an Adamis Kunst. Später realisieren sie mehrere hundert Siebdrucke gemeinsam. Sie nehmen Derridas Werk „Glas“: „Er wählte eine Passage, isolierte einen Satz und bat mich, ihn mit Bleistift auf ein Papier zu schreiben und zu signieren – dann machte er sich an die Arbeit“, berichtet Derrida in seinem Buch „Du droit à la philosophie“.

Wahre Schreckbilder

Es hat eine gewisse Ironie, dass der überängstliche Vater Derrida die Tötungszene mit dem wirklichen Sohn Jean nachstellt. „Schwer zu ertragen war seine ständige Angst. Als wir klein waren, hatte er Sorge, wenn wir draußen spielten … später wurden Motorräder und Drogen für ihn wahre Schreckbilder, die ihn verfolgten. Seine Zornausbrüche hingen immer mit der Angst zusammen“, berichtet Jean viele Jahre später dem Derrida-Biografen Benoit Peeters. Und „wenn die Kinder abends nicht zum Gute-Nacht-Kuss zu ihm kamen, stürzte er sofort in echte Verzweiflung“, erinnert sich Camilla Adami.

Doch es ist nicht die Angst des realen Vaters Jacques Derrida, die den Betrachter dieser biblischen Szene anrührt. Verweist die inszenierte Geschichte doch vielmehr auf eine überindividuelle Struktur von Gut und Böse, auf etwas, das außerhalb der Akteure liegt. Sie ist die Matrix unendlich vieler Konflikte und Konstellationen, die uns in den Mythologien und in Hunderten von Geschichten und Bildern begegnen und ein Erinnern ohne Erinnerung in Gang setzen. Sie bilden etwas, was man kollektives Gedächtnis nennt.

In allen Anfängen der abendländischen Kulturgeschichte wimmelt es nur so von toten Kindern. Göttervater Uranos verbannt seine Söhne in die Unterwelt, Laios lässt seinen Sohn Ödipus aussetzen, der wütende Kronos frisst seine Kinder gleich nach der Geburt, und der mythische König Artus lässt alle Kinder, die als Ablöser in Frage kommen, auf einem Schiff im Meer versenken.

Die biblische Tötung der Knaben unter zwei Jahren in Betlehem ist nicht belegt. Belegt ist hingegen, dass König Herodes seine beiden ältesten Söhne hinrichten ließ. Auch wenn es den großen Kindermord nicht gegeben hat, braucht das Neue Testament all die toten Kinder, um Jesus als Messias zu installieren. Am Ende wird auch er unterworfen und vom Vater geopfert: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen!“ Die Christen haben für die toten Kinder von Betlehem einen Tag des Gedenkens im Kalender reserviert. Die Katholiken begehen das „Fest der unschuldigen Kinder“ am 28. Dezember. Doch wer hat von diesem Fest überhaupt schon mal gehört?

All diese Geschichten und Mythen verhandeln Macht und (Un-)Endlichkeit. Der Vater-Sohn-Konflikt ist dafür die Folie. Doch die kommt nicht aus dem Nichts. Sie ist die zentrale Form der Konfliktbewältigung, wenn es um die Durchsetzung der patriarchal geprägten monotheistischen Religionen geht. Bis in unsere Gegenwart hat sie eine wahrnehmungs- und handlungsstrukturierende, ja machtkonstituierende Dynamik. Man muss sich nur die dramatischen Generationenkonflikte in Familienbetrieben anschauen oder die Worte Thomas Manns zur Geburt seiner ersten Tochter, die von der anderen Seite derselben Medaille erzählen: „Ich empfinde einen Sohn poesievoller, mehr als Fortsetzung und Wiederbeginn meiner selbst unter neuen Bedingungen.“

Bekämpfen des Neuen

Ob Fortführung des eigenen Daseins hier oder Bekämpfen des nachfolgenden Neuen dort: Die Ewigkeit wird zwischen Vater und Sohn verhandelt, die Frau als Gebärende spielt keine Rolle. Im Gegenteil, die monotheistischen Religionen, vor allem das Christentum und der Islam, mussten die Frau dämonisieren, um sie loszuwerden.

In der griechischen Mythologie hat sich das Vater-Sohn-Motiv mit der Niederlage der Rachegöttinnen, der Erinnyen (die Römer nannten sie Furien), durchgesetzt. Mit dem Freispruch Orestes, der, von Apollon aufgefordert, seine Mutter tötet und gegen den Widerstand der Erinnyen von Athene freigesprochen wird, verändert sich die Rechtsprechung und das patriarchale Prinzip kommt zur Anwendung. Die Furien, sie haben bis heute keinen guten Leumund.

Das Tableau vivant ist nur eine Fußnote in Derridas Schaffen. Vielleicht ein Kratzen an den Metaphern. Vielleicht bloß ein Zeitvertreib an einem Sommernachmittag.