Ibn-Rushd-Goethe-Moschee in Berlin: Die Neue im Kiez

Seyran Ateş hat eine liberale Moschee gegründet – und dafür Lob, Kritik und Morddrohungen erhalten. Wie hat sich die Gemeinde entwickelt?

Ein Mann im weißen Gewand

Erleuchtet: Christian Hermann ist konvertiert, nachdem er in der Moschee von Seyran Ateş war Foto: Karsten Thielker

BERLIN taz | Wenn Menschen von ihrer religiösen Erweckung berichten, dem Moment, in dem sie zum Glauben fanden, tragen diese Erzählungen oft mystische Züge. Bei Christian Hermann klingt das so: Als er im Juli zum ersten Mal diese Moschee betrat, sich die Schuhe auszog, die Füße auf den weichen, weißen Teppich setzte, sah er eine Lichtbrechung, ganz klein, hervorgerufen durch einen schrägen Winkel in der Wand, genau da, wo Mekka ist. In dem Moment, sagt er, fühlte er sich am Ziel, zu Hause. Ihm wurde klar: „Ich werde Muslim.“

Er hatte in den Medien von dieser Moschee erfahren, die allen offen steht, in der Frauen neben Männern beten und sogar predigen dürfen. Eine Moschee, die auch Menschen wie ihn willkommen heißt: Als Homosexueller habe er sich vom Islam vorher nie eingeladen gefühlt, sagt Hermann.

Dann ging alles recht schnell: Im August sprach er die Schahāda, das Glaubensbekenntnis der Muslime. Aus Hermann, 47, gelernter Industriekaufmann und ehemaliger Projektmanager, ein großer, kräftiger Mann mit Bart und fränkisch rollendem R, der mit 19 aus der evangelischen Kirche ausgetreten war und seitdem „frei mit Gott“ lebte, wurde Awhan.

Kurz darauf begann er, Videos zu drehen und ins Netz zu stellen, in denen er über sich und seine neue Religion spricht. Angst, dafür verspottet zu werden, habe er nicht, sagt er. Er ist sich seiner Lage bewusst: „Viele Muslime nehmen das Projekt eh nicht ernst.“ Für die seien sie keine Muslime, die Moschee sei keine Moschee. Eine Ansicht, der er natürlich widerspricht.

Über 80 Moscheen gibt es in Berlin, sieben allein im Ortsteil Moabit. Meist sind es unauffällige Bauten: ehemalige Fabrikgebäude, leere Garagen, ehemalige Büros. Schlagzeilen machen sie nur, wenn es um Islamismus geht, wie bei der Al-Nur-Moschee in Neukölln, die lange als Treffpunkt radikaler Salafisten galt, oder der Fussilet-Moschee in Moabit, dem „Terrornest“, in dem auch Anis Amri verkehrte.

Den Islam von der Politik trennen

Die Ibn-Rushd-Goethe-Moschee, in die Christian Hermann geht, machte auch Schlagzeilen, aber andere. Als die Anwältin Seyran Ateş, bekannt für ihr Engagement für Frauenrechte, mit ihrem Plan an die Öffentlichkeit trat, in den Räumen einer evangelischen Kirche eine liberale Moschee zu eröffnen, kamen Reporter aus ganz Europa, Nahost und den USA. Cem Özdemir war da, Renate Künast, Berlins Bürgermeister Michael Müller.

Seyran Ateş fragt: Wie kann man dafür sorgen, dass der Islam nicht immer mit Terror in Verbindung gebracht wird? Sie will mit ihrer liberalen Moschee eine Antwort darauf geben. Der Islam soll reformiert, von der Politik getrennt werden. Suren sollen nicht umgeschrieben, wie einige Kritiker befürchteten, sondern der Koran in seinem historischen Kontext verstanden werden.

Dafür tourte Ateş durch Talkshows, gab Interviews, hielt Reden. Viele nichtmuslimische Politiker, Journalisten und Islamwissenschaftler liebten sie dafür, lobten ihr Engagement. Viele Muslime hingegen kritisierten sie. Einige, weil ihnen Ateşs Reformanspruch zu weit ging, andere, weil sie ihre Art als zu provokant, ihre Kritik an den Islam-Verbänden als zu laut empfanden.

Über ein halbes Jahr ist seit der Eröffnung vergangen, das mediale Interesse ist abgeebbt. Was ist seitdem geschehen? Wird die neue Moschee überhaupt besucht und wenn ja, von wem? Und wie finden die anderen Moschee-Gemeinden im Kiez das, was dort ausprobiert wird?

Im Schatten von Seyran Ateşs Prominenz hat sich inzwischen eine Gemeinde gesammelt, die sich deutlich von den meisten anderen unterscheidet. Sie sind die Neuen im Viertel: Männer und Frauen, jung und alt, deutsche Konvertiten wie Christian Hermann, aber auch Araber, die schon lange in Deutschland leben und mit dem konservativen Islam hadern.

Wer die Ibn-Rushd-Goethe-Moschee regelmäßig besucht, bemerkt eine gewisse Unbeständigkeit. Neugierige Gesichter, die auftauchen und wieder verschwinden – einige nach ein paar Minuten, andere, nachdem sie mehrmals zu Besuch waren, sich teils sogar in der Gemeinde engagiert haben.

Die Mitgliederzahl bleibt konstant, die Gesichter nicht

Zeitweise bröckelte sogar das Gründer-Team. Einen Tag nach der Eröffnung verließ der Neurologe Mimoun Azizi die Moschee: Auf Facebook gerierte er sich als Spion, der die Bewegung nur unterwandert habe. Ateşs Projekt gehe eindeutig zu weit, sagte er am Telefon, der Reformanspruch sei nicht mit dem Islam vereinbar. Im Herbst verließ ein weiteres Gründungsmitglied, der Arzt Akram Nasaan, das Team, weil er fand, die Moschee sei nicht liberal genug. Kritik kam auch aus dem Ausland: Die türkische Religionsbehörde Diyanet rückte die Moschee in die Nähe der Gülen-Bewegung, um sie zu diskreditieren. Das ägyptische Fatwa-Amt erklärte sie für unislamisch.

Seyran Ateş wurde mit dem Tod bedroht und darf seitdem nur mit verstärktem Polizeischutz aus dem Haus. Währenddessen kamen neue Gemeindemitglieder, alte gingen. Nur die Anzahl blieb annähernd konstant, nicht die Gesichter.

Die Ibn-Rushd-Goethe-Moschee, am 6. Oktober 2017. Es ist Freitag, vor zwei Tagen hat der Wirbelsturm Xavier Bäume entwurzelt und Bahnverbindungen gekappt. Etwa dreißig Leute sind gekommen, viele davon Journalisten. Sie warten auf Abdel-Hakim Ourghi, einen Mitgründer der Moschee, der hier sein neues Buch präsentieren will, und auf Ludovic-Mohamed Zahed, einen schwulen Imam aus Frankreich. Die beiden kommen nicht, sie stecken irgendwo fest – Xavier ist schuld.

Stattdessen tritt Christian Hermann vor die Gemeinde, in den Händen ein Stück Papier, seine Predigt. Das Thema: die Unvorhersehbarkeit des Lebens, passend zum Sturm.

„Wie sollen wir damit umgehen, dass wir Pläne machen, es dann aber doch anders kommt?“, fragt er. „Gott weiß ja längst, was geschieht. Steht das nicht in Konflikt zum freien Willen des Menschen?“ Hermann, weißer Gebetskittel, graue Mütze, liest mit ruhiger Stimme. Immer wieder schaut er kurz von seinen Notizen auf, blickt ins Publikum. „Man muss akzeptieren, dass man nicht alles erklären kann“, sagt er. „Dann hat dieser Gedanke auch etwas Tröstliches: Zu wissen, es gibt da eine Kraft, auf die man sich stützen kann.“

Wird die Gemeinde wachsen?

Etwa zwanzig Minuten dauert Hermanns Predigt, danach beginnt das Mittagsgebet. Erst jetzt zeigt sich, wer Besucher und wer Gemeindemitglied ist. Die Mitglieder versammeln sich in der Mitte des Raums, knien nieder. Sie sind an diesem Tag, wie so häufig, in der Unterzahl, zu zehnt.

Hermann stört das nicht. 24 Ehrenamtliche würden sich derzeit in der Moschee engagieren, sagt er, hinzu kämen Besucher, die regelmäßig vorbeischauen. Er geht davon aus, die Gemeinde wird wachsen.

Andere Gemeindemitglieder sehen das weniger entspannt. An einem Freitag im Dezember sitzt Mohamed El-Asra auf dem weißen Teppich. Er hat gerade das Gebet gesprochen und bleibt noch, um sich mit den anderen auszutauschen.

El-Asra ist von Anfang an dabei. Ein zurückhaltender, höflicher Mann. 54 Jahre alt, Architekt, in Ägypten geboren, seit 30 Jahren in Deutschland. Sein Nachname ist geändert, er möchte lieber anonym bleiben. „Ich habe mich in den konservativen Moscheen nie wohl gefühlt“, sagt er, zu politisch seien die Predigten, zu oft gegen das Leben in Deutschland gerichtet. Zwei Jahre sei er deshalb in keiner Moschee mehr gewesen. Dann erfuhr er von Seyran Ateşs Projekt.

„Wir werden nicht mehr, vor allem Junge fehlen und das beunruhigt mich“, sagt El-Asra. „Ich habe Angst, dass die Idee von einem deutschen Islam dann stirbt.“ Ein deutscher Islam, das bedeutet für ihn: den Wurzeln verbunden und doch der Gesellschaft zugewandt.

Skepsis, Ablehnung, Druck

Die Berichte im Fernsehen und in den Zeitungen, sie hätten der Moschee schon gutgetan, sagt Mohamed El-Asra und überlegt einen Moment. „Die meisten Muslime aber erreicht man damit nicht. Man müsste in die Moscheen gehen und die Leute direkt ansprechen.“ Und wohl auch für die Idee kämpfen. So wie Seyran Ateş es bei ihren öffentlichen Auftritten tut. Er selbst sei aber kein Kämpfer, sagt El-Asra.

Neben ihm steht ein junger Mann und hört aufmerksam zu. Er hat schwarzes, krauses Haar und Bartflaum. „Einige Muslime sind einfach noch nicht so weit“, sagt er, „und andere – das ist die Mehrheit – haben einfach Angst.“ Er klingt wie seine Tante, wenn er das sagt. Der junge Mann, Tugay Tunc, 20, ist der Neffe von Seyran Ateş.

Es gibt ein Video von der Moschee-Eröffnung, da umarmt er seine Tante. Ehemalige Mitschüler haben es auf YouTube gesehen. Einige, sagt Tunc – sein Name ist zu seinem Schutz auch geändert –, hätten ihn daraufhin gemieden. „Für die war ich ein Verräter.“ Es habe in seiner Klasse Schüler gegeben, Mädchen vor allem, die wären gern in die Moschee gekommen, trauten sich aber nicht. Die Skepsis, die Ablehnung, der Druck – sie müssen groß sein in der Community.

Keine 800 Meter von der Ibn-Rushd-Goethe-Moschee entfernt, in einem unscheinbaren Wohnblock in der Ra­thenower Straße, liegt das Haus der Weisheit, Darul Hikma heißt es auf Arabisch. Eine Glastür führt in einen schmalen Flur, von dort geht es links in einen großen Raum mit niedriger Decke. Durchquert man ihn, gelangt man in den nächsten Raum. Das Gebäude wirkt wie eine riesige Wohnung, in der man alle Türen aus den Angeln gehoben hat. Und in der es an diesem Freitag von Menschen wimmelt.

Es ist halb eins, Zeit fürs Mittagsgebet. Männer sitzen, Schulter an Schulter, auf dem roten, goldverzierten Teppich. Die meisten sind über 30, einige tragen Mäntel, andere Sakko oder Blaumann, sie haben gerade Mittagspause. Lange Bärte und traditionelle Gewänder sind die Ausnahme, Frauen sieht man keine.

Heikle Auseinandersetzung

Das arabische Gemurmel verstummt erst, als der Imam, ein älterer Mann mit grauem Bart und weißer Kappe, den Raum betritt. Er geht die schmale, etwa anderthalb Meter hohe Kanzel hinauf, in der Hand ein paar Blätter dicht beschriebenen Papiers. Etwa dreißig Minuten dauert seine Predigt, er hält sie auf Arabisch. Der Imam legt ruhig los, wird dann schneller, lauter, beginnt wild zu gestikulieren. Seine Stimme bricht fast, so aufgewühlt wirkt er in einem Moment. Die Augen der Männer sind die ganze Zeit auf ihn gerichtet.

Es ist neben den fehlenden Frauen der wohl deutlichste Unterschied zwischen der Ibn-Rushd-Goethe-Gemeinde und der im Haus der Weisheit: Hier darf nicht jeder predigen, es gibt eine klare Hierarchie – der Imam predigt, die Gemeinde horcht.

Für Interviews hat der Imam vom Haus der Weisheit keine Zeit, nicht an diesem Freitag, nicht in den drei Wochen danach. Dafür ist ein Gemeindemitglied zu einem Gespräch bereit: Mustafa Nasser, 68, kariertes Hemd, ernster Blick, höflich, aber reserviert, sitzt zwei Wochen später in einem Nebenraum der Moschee und lädt zu Manakish, der arabischen Pizza, und Ayran. Wie die meisten anderen will auch er in diesem Text nur anonym auftauchen – ein Zeichen dafür, wie heikel die Auseinandersetzung mit den verschiedenen Auslegungen des Islam oft ist.

Sieben Männer beten

Mittagsgebet im Haus der Weisheit in Berlin-Moabit Foto: Karsten Thielker

Nasser kam Anfang der Sechziger aus Ägypten nach Deutschland. Er arbeitete als Bauingenieur, später beim Bezirksamt, heute ist er im Ruhestand. Warum er gerade in diese Moschee komme? Weil sie nicht politisch sei, sagt er. „Hinter dieser Moschee steht kein Staat. Sie ist nicht einmal Mitglied in einem Verband“, sagt er. Um unabhängig zu sein, lebe die Moschee allein von Spenden.

Das Haus der Weisheit ist eine In­stitution in Moabit. 1995 in einem Hinterhof in der Waldstraße gegründet, kamen schnell mehr Menschen, als das Haus fassen konnte. Freitags drängten sie sich auf der Straße, die Nachbarn beschwerten sich. Als die Räume in der Rathenower Straße frei wurden, übernahm die Gemeinde auch sie. Zwei Standorte hat sie seitdem und 400 Mitglieder. Die meisten sind Palästinenser, geflohen vor dem Bürgerkrieg im Libanon; es kommen aber auch Ägypter, Jordanier, Syrer. 2015 schliefen viele Geflüchtete in den Räumen der Moschee.

Eine unsichtbare Grenze

Deutsche ohne Migrationshintergrund, sagt Mustafa Nasser, sehe man hier selten, weil die Predigten auf Arabisch seien. „In den Ferien, wenn auch die Kinder zum Gebet kommen, werden sie auch auf Deutsch übersetzt.“ Dann wird Nasser unterbrochen. Die Lautsprecher knacken kurz, dann: der Rhythmus von Trommeln, über den sich eine Männerstimme legt.

Wie jeden Freitagabend trifft sich die Gemeinde zum Musizieren. Etwa zwanzig Männer sitzen vor der Kanzel im Kreis, einige auf Stühlen, andere auf dem Boden. Direkt neben der Kanzel: ein etwa 30-jähriger Mann mit einem Mikrofon, die Augen geschlossen, versunken im Gesang.

Rechts gelangt man in den hinteren, versteckten Teil des Raums. Hier sitzen die Frauen. Zehn sind es an diesem Abend. Sie knien, das Haar verschleiert, auf dem Teppich. Plötzlich löst sich ein kleines Mädchen aus der Gruppe, vielleicht sechs Jahre alt, mit roten Locken. Es läuft in den vorderen Teil des Raums, legt ihrem singenden Vater freudestrahlend die Hand auf den Rücken. Nicht ahnend, dass es gerade eine unsichtbare Grenze überschritten hat.

Christian Hermann, Konvertit

„Viele Muslime nehmen das Projekt eh nicht ernst. Für die sind wir keine Muslime“

Mustafa Nasser bezeichnet seine Gemeinde als liberal. Zum Beispiel, weil hier musiziert wird. Für erzkonservative Muslime ist Musik haram, verboten. Doch es gibt einen Unterschied zwischen liberal und liberal, eine Trennlinie. Und die verläuft genau hier in diesem Raum. Für Nasser bedeutet liberal auch: an der deutschen Gesellschaft orientiert. Projekte wie die Moschee von Seyran Ateş findet er daher gut, er war auch selbst schon mal da.

Die Medien, sagt er, hätten ein Riesending daraus gemacht. „Dabei ist die Moschee gar nicht so anders: Es gibt eine Predigt, ein Gebet, danach Zeit zum Reden.“ Das Einzige, was ihm zu weit geht: „Männer und Frauen dürfen nicht zusammen beten. Das ist gegen die Religion.“

Die Sache mit den Frauen

Egal, ob man konservative oder vermeintlich liberale Muslime fragt, letztlich haben die meisten von ihnen dasselbe Problem mit der neuen Moschee: die Sache mit den Frauen, dass sie predigen dürfen und mit den Männern in einer Reihe beten. Viele kritisieren auch die fehlende Ausbildung von Ateş. Ein Imam findet, ihrer Moschee fehle das theologische Fundament. Andere argumentieren weltlich: Frauen, die sich beim Gebet nach vorn beugen, lenken die Männer ab.

In der nichtmuslimischen Mehrheitsgesellschaft hingegen hat genau dieser Aspekt die Moschee von Ateş so beliebt gemacht. In regelmäßigen Abständen kommen dort Schulklassen vorbei, Bürgerinitiativen, Mitglieder verschiedenster Parteien. Längst ist die Ibn-Rushd-Goethe-Moschee zu einem Anlaufpunkt für Nichtmuslime geworden, an dem sie Fragen zur Religion stellen können. Sie gilt vielen als Gegenentwurf zu einem vermeintlich rückschrittlichen Islam.

Das macht sie auch für die sogenannten Islam-Kritiker interessant. Hamed Abdel-Samad war hier, Henryk M. Broder. Vereinzelt gab es auch Beifall von der AfD.

Viele Imame und Besucher traditioneller Moscheen stören sich am gewaltigen Medienecho. Der Islam, der in der Ibn-Rushd-Goethe-Moschee gepredigt werde, ist dann häufig zu hören, sei einer, der sich den Nichtmuslimen anbiedere. Ein Islam, so drückt es ein Imam der Ahmadiyya-Gemeinschaft aus, der „die Erwartungen der Mehrheitsgesellschaft erfüllt“.

Ateşs Projekt wird von einigen Muslimen aber auch aus einem ganz anderen Grund kritisch beobachtet, nicht wegen des Revolutionären, Aufgeschlossenen. Sondern weil die Idee gar nicht so neu ist, wie sie scheint. Reformistische Moschee-Gemeinden gibt es weltweit, in den USA, Großbritannien, Malaysia. Und in Moabit.

„Die Einteilung in Gut und Böse ist zu simpel“

Geht man von der Ibn-Rushd-Goethe-Moschee zwei Kilometer in Richtung Westen, steht man vor einem Backsteinbau. Die Reformationskirche. An einem Sonntag Anfang Juli sitzen hier in einem Nebenraum etwa dreißig Menschen auf Bierbänken. Teller werden herumgereicht, es gibt Hummus, Salat, Baklava.

Die Leute, die sich hier treffen, gehören zum Liberal-Islamischen Bund (LIB), einer Vereinigung von Muslimen, die sich als progressiv verstehen. Der Verein, 2010 von der Islamwissenschaftlerin Lamya Kaddor gegründet, lebt schon seit Jahren das, was Seyran Ateş postuliert: Imaminnen sprechen das Gebet, Frauen beten neben Männern, Homosexuelle sind willkommen.

Nushin Atmaca, 33, ist die Vorsitzende des Vereins. „Die Predigten in traditionellen Moscheen sind mir zu realitätsfern, die Einteilung in Gut und Böse zu simpel. Und das Bild vom strafenden Gott ist einfach zu einseitig“, sagt sie, während sie durch den Raum führt. „Man kann da nicht wirklich diskutieren.“ Atmaca hat die Berliner Gemeinde des LIB mit aufgebaut. Eine eigene Moschee hat der Verein zwar nicht, die Reformationskirche Moabit überlässt ihnen aber seit drei Jahren den Nebenraum. Einmal im Monat kommen die Mitglieder hier zusammen, besprechen gesellschaftliche und religiöse Themen und beten.

Der Koran

Das heilige Buch: Im Haus der Weisheit deutet man es eher konservativ Foto: Karsten Thielker

An diesem Sonntag steht noch etwas anderes auf dem Programm. Die Gruppe steht auf, geht hinüber in den Kirchensaal. Die anderen sind schon da: die Christen. Alle singen, erst christliche Lieder, auf Deutsch, dann muslimische, auf Arabisch.

Die Berliner Gemeinde des Liberal-Islamischen Bunds ist, ähnlich wie die Ibn-Rushd-Goethe-Moschee, überschaubar: 25 Mitglieder sind es zur Zeit. Warum nicht mehr Menschen kommen? Es gebe viele liberale Muslime, sagt Nushin Atmaca, „die leben ihren Glauben aber für sich und gehen nicht in die Moschee“.

Das Verhältnis zwischen dem Liberal-Islamischen Bund und der Ibn-Rushd-Goethe-Moschee ist – aller inhaltlichen Parallelen zum Trotz – kühl. Atmaca hält einige von Ateşs Positionen für problematisch: ihr Eintreten für ein Kopftuchverbot für Lehrerinnen zum Beispiel oder ihre ständige Kritik an konservativen Muslimen. Eine progressive Auslegung des Islam, sagt Atmaca, müsse auch konservative Sichtweisen respektieren.

Menschen, die von sich aus zusammenkommen

Eine Kooperation zwischen LIB und Ateşs Moschee gibt es nicht, zumindest nicht auf Leitungsebene. Bei den Mitgliedern sieht es schon anders aus.

Da ist zum Beispiel Regine Zabel. Graues T-Shirt, locker ums Haar gebundenes Tuch; sie singt an diesem Sonntag auch in der Kirche. Drei Monate später trifft man sie in der Ibn-Rushd-Goethe-Moschee. „Ich fühle mich hier wohl“, sagt sie. Und das, obwohl auch sie manches hier für falsch und kontraproduktiv hält: Ateşs vehementer Kampf gegen das Kopftuch oder Abdel-Hakim Ourghis „Thesenanschlag“ an einer Neuköllner Moschee, mit dem er sein Buch „Reform des Islam: 40 Thesen“ bewerben wollte.

Regine Zabel, Mitte 40, ihr Nachname ist ein anderer, sagt, sie habe in traditionellen Moscheen mitunter das Gefühl, die Männer würden sie nur als Frau, nicht als Menschen wahrnehmen. Einmal hat sie den Islam-Unterricht für Frauen in einer solchen Moschee besucht. Die Frau hat dem Mann zu gehorchen, hieß es da. Vorgetragen von einer Frau wohlgemerkt. „Da dachte ich: Was soll das denn? Ich war mein Leben lang Feministin, ich habe noch nie einem Mann gehorcht.“

Dem Liberal-Islamischen Bund bleibt Zabel treu, sie geht inzwischen aber auch regelmäßig in die Ibn-Rushd-Goethe-Moschee, vor allem freitags, zum Unterricht. Dort lernt sie, den Koran zu rezitieren.

Wird Seyran Ateşs Projekt dem Liberal-Islamischen Bund die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit und vielleicht sogar Mitglieder streitig machen? Ateş sagt, es sei nicht ihr Problem, dass ihr Projekt das bekanntere sei. Die Vorsitzende des LIB Nushin Atmaca sagt: „Wir verschließen uns einem Dialog mit der Ibn-Rushd-Goethe-Moschee nicht.“ Irgendwann will der LIB aber auch eine eigene Moschee, nicht nur einen Nebenraum.

Regine Zabel ist vor allem eines wichtig: Eine Gemeinde, die sich bewegt. Menschen, die von sich aus zusammenkommen.

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