Der Computer weiß alles

Chinas derzeit erfolgreichster Science-Fiction-Autor, Cixin Liu, lässt in seiner Novelle „Spiegel“ die Frage nach der Entstehung des Weltalls beantworten

Cixin Liu: „Spiegel“. Aus dem Chinesischen von Marc Hermann. Heyne Verlag, München 2017, 192 Seiten, 9,99 Euro

Von Tim Caspar Boehme

Die äußere Handlung ist denkbar lapidar. Ein Beamter der Disziplinarkommission wird in China ins Gefängnis gesteckt. Dort besucht ihn ein Fremder mit einem Laptop. Wenig später kommen hohe Funktionäre aus der Provinz hinzu. Gemeinsam lässt man sich von dem Fremden ein Programm im Rechner vorführen. Und hinterher ist für keinen der Beteiligten das Leben mehr wie zuvor.

Cixin Liu, Chinas derzeit erfolgreichster Science-Fiction-Autor – vor Kurzem erschien auf Deutsch sein großer Zukunftsentwurf „Die drei Sonnen“ –, lässt seine Novelle „Spiegel“ in einer geringfügig modifizierten Gegenwart spielen. Auf gut 100 Seiten verschaltet das 2004 in China erschienene Büchlein elegant die Frage nach den Anfängen des Universums mit der Korruption im heutigen China.

Song Cheng, so heißt der Beamte, hat man einen Mord untergeschoben, weil er kurz davor stand, einen Korruptionsskandal in seiner Provinz aufzudecken. Jetzt gilt er als Mörder eines Callboys. Und steht in der Achtung der Zellengenossen ganz tief unten. Der mysteriöse Mann mit dem Computer, Bai Bing, ist Softwareentwickler. Er wird seinerseits von der Polizei verfolgt, weil er über gefährliches Wissen verfügt. Und zu seinem Vorteil zu nutzen versucht. Zudem weiß er immer genau, was seine Verfolger tun, ist ihnen stets einen Schritt voraus. Weiß Dinge, die ihm selbst ein Maulwurf bei der Polizei nicht verraten könnte.

Die beiden Schicksale von Song Cheng und Bai Bing sind durch den Computer des Letzteren verbunden. Dieser verfügt als „Superstringcomputer“ über unbegrenzte Rechenkapazitäten. Und Bai Bing hat ein Programm installiert, mit dem er den Urknall simulieren kann. Hier beginnt dann der eigentliche Science-Fiction-Anteil des Buchs. Denn mit dieser Hard- und Software-Kombination gelingt es dem Programmierer, eine komplette Simulation des bestehenden Universums ablaufen zu lassen. Die zu jedem beliebigen Zeitpunkt an jedem Ort im All die Ereignisse rekonstruieren kann, eins zu eins.

Dieser titelgebende Spiegel legt sich wie eine zweite Haut über das Universum und verschafft Bai Bing sein übermenschliches Wissen. Was auf den ersten Blick ganz prima bei der Korruptionsbekämpfung hilft. Selbstverständlich gibt es einen Nachteil an der Geschichte, und zwar von allumfassendem Ausmaß.

Man könnte in der Geschichte eine Parabel sehen auf die Frage nach den Folgen von übergroßer Transparenz. Die gesellschaftliche Dimension, die Cixin Liu am Beispiel der Korruption einer Provinzverwaltung und deren neuen Kontrollmöglichkeiten schildert, erweist sich bei genauerer Betrachtung jedoch als viel zu ambivalent für eine bloß moralische Kritik. Sie liefert aber wie nebenbei ein konzises Bild eines der drängenden Probleme, mit denen China konfrontiert ist.

Das alles schildert Cixin Liu in einer knappen Prosa, die den Spagat zwischen krimihaftem Spannungsaufbau und trockener Wissenschaftsdebatte hinbekommt. Denn in „Spiegel“ ist viel von Quantenmechanik und Superstringtheorie die Rede und davon, was man unter Kausalität verstehen kann. Dass die Angelegenheit nicht spröde gerät, macht das Buch umso erstaunlicher. Unnötig sind bloß die zwei hinzugefügten Leseproben aus größeren Werken von Cixin Liu, mit denen der Band um 50 Seiten aufgebläht wurde.