Fakten über Angststörungen: Keine Angst, hier stirbt niemand

Angststörungen sind immer noch ein Tabu. Dabei tritt die psychische Erkrankung häufiger auf als Depressionen. Wie ist es, damit zu leben?

Im Licht der untergehenden Sonne zieht ein Flugzeug seine Kondensstreifen über den Himmel in Frankfurt am Main

Was nicht hilft: Statistiken über Flugzeugabstürze versus Verkehrstote Foto: dpa

Rund zehn Millionen Menschen in Deutschland leiden an einer Angststörung. Die psychische Erkrankung ist trotzdem immer noch ein Tabuthema. Unsere Autorin hat ein Sachbuch über das Thema Angststörungen geschrieben. 33 Fakten darüber, wie es ist, mit der Angst zu leben.

1. Wer eine Angststörung hat, wählt deshalb nicht zwangsläufig AfD.

2. Eine Angststörung ist nicht in, hip oder angesagt. Fragen Sie mal die Menschen, die davon betroffen sind. Dieser Eindruck entsteht höchstens durch eine vermehrte Medienpräsenz.

3. Apropos Medienpräsenz: Die ist vielleicht nervig, aber auch wichtig – und sie geht wieder weg, sobald das nächste Thema ansteht. Also: Kommen Sie damit klar.

Franziska Seyboldt: „Rattatatam, mein Herz“. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2018, 256 Seiten, 18 Euro.

4. Wer eine Angststörung hat, ist deshalb nicht unbedingt ein ängstlicher Mensch.

5. Angststörung, ist das so was Gesellschaftliches? Flüchtlinge, Terror, Pegida? Nein. Und bevor Sie nochmal nachfragen: Nein.

6. Was hilft: Neugierde, Toleranz und ein Mindestmaß an Empathie. Besser ein bisschen mehr. Kann man aber auch lernen. Außerdem sind das die Grundsätze, mit denen man jedem Menschen begegnen sollte.

7. Der Unterschied zwischen Angst und Angststörung: keiner, außer dass Letztere in Momenten auftritt, in denen objektiv betrachtet überhaupt keine Gefahr droht.

8. Das Gegenteil von Angst ist nicht Mut. Angst ist die Voraussetzung für Mut, und die kann man überwinden. Dann ist man mutig.

9. Menschen mit Angststörung sind nicht zwangsläufig schüchtern, schwitzen und haben hängende Mundwinkel. Manche duschen sogar.

10. Frauen sind häufiger von Angststörungen betroffen als Männer. Was eventuell daran liegt, dass Angst als schwach gilt und viele Männer das deshalb nicht zugeben.

11. Die Angst macht sich gerne wichtig. Manchmal hilft es, sich vorzustellen, wie groß das Universum ist und wie klein und unwichtig man selbst.

12. Was nicht hilft: Statistiken über Flugzeugabstürze versus Verkehrstote. Es geht nicht darum, dass etwas relativ unwahrscheinlich ist, sondern darum, dass es ein bisschen wahrscheinlich ist. Und wenn es nur 0,1 Prozent sind.

13. Die Angst will einen vor allem beschützen. Dafür darf man ruhig auch mal dankbar sein.

14. Man muss nicht wissen, was Stigmatisierung bedeutet, um zu wissen, wie sie sich anfühlt.

15. Angstschweiß stinkt immer, trotz Deo.

16. Warum viele Betroffene erst so spät Hilfe suchen? Wer eine Therapie macht, gesteht sich ein, dass er ein Problem hat. Vorher kann man die ganze Sache wunderbar runterspielen, vor allem vor sich selbst.

17. Man kann nur Macht über psychische Krankheiten bekommen, wenn man sie so konkret wie möglich benennt. Nicht die korrekte Diagnose zu verwenden macht die Krankheit größer, als sie ist.

18. Eine Verhaltenstherapie ist nicht für jeden der richtige Weg. Obwohl zahlreiche Studien belegen, dass sie bei Angstpatienten im Vergleich zu anderen Therapieformen besonders schnell wirkt und die höchste Erfolgsquote hat.

19. Egal, welche Therapie man macht: Bei einem guten Therapeuten fühlt man sich nicht reduziert auf seine Angst. Da ist man ein Mensch mit einer Angststörung. Bei einem schlechten Therapeuten eine Angststörung mit einem lästigen menschlichen Anhängsel.

20. Wer eine Therapie macht, ist nicht total selbstbezogen und redet nur noch über sich selbst. Im Gegenteil: Man bürdet seinen Freunden weniger Gefühlschaos auf. Für Probleme ist ein Tag in der Woche vorgesehen, und demjenigen, der einem zuhört, ist man nichts schuldig. Er bekommt sogar Geld dafür.

21. Die Angst ist nicht nur da, wenn man sie gerade spürt. Damit, wie man sich insgesamt im Leben verhält, beschwört man sie immer wieder aufs Neue hervor. (Jedenfalls, wenn man nicht daran arbeitet.)

22. Stress ist eine Ursache für Angst. Man muss aber kein Vorstandsvorsitzender sein, der seine Mails im Urlaub liest, um Stress zu haben. Stress ist nämlich keine Währung, die für jeden den gleichen Wert hat.

23. Wenn man wahnsinnig viel zu tun hat, ist die Angst meistens unsichtbar. Aber wetten, dass sie dafür mit in den Urlaub fährt? Viel Spaß!

24. Wenn die Mutter streng, anspruchsvoll, perfektionistisch, gemein und verurteilend ist, hat es das Kind nicht leicht. Das gilt genauso für das innere Kind.

25. Man kann lernen, mit seinem inneren Kind liebevoll umzugehen. Warum sollte man zu sich selbst auch so hart sein, wie man es zu anderen Personen nie wäre?

26. Klosterfrau Melissengeist. Hilft gegen alles, vor allem gegen innere Unruhe.

27. Wenn die Angst plötzlich verschwindet und man gar nichts mehr spürt, hat man vermutlich eine Depression. Meistens liegt es daran, dass die Angst davor so groß war, dass der Körper einen schützt. Wie bei einem Stromausfall: Überhitzung, zack, dunkel.

28. Wenn man ausführlich von jemandem gemustert wird, hat man entweder Petersilie zwischen den Zähnen. Oder sieht einfach super aus. Beides kein Grund, nervös zu werden.

29. Die Angst lieben zu lernen ist verrückt – und hilfreich.

30. Was nicht hilft: der Spruch „Reiß dich zusammen.“ Das sagen wir uns selbst schon oft genug.

31. Wer seine Angststörung thematisiert, wird automatisch zum Botschafter für Angststörungen und psychische Erkrankungen im Allgemeinen.

32. Eine Panikattacke fühlt sich zwar an, als würde man sterben. Aber hier stirbt niemand. Das wäre der Angst viel zu langweilig.

33. Wenn man seine Angststörung öffentlich macht, muss man wenigstens keine Energie mehr darauf verschwenden, sie zu verstecken.

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