Spitzel und Spudok

Wie das LKA in den 70ern und 80ern die Göttinger Anti-Atom-Bewegung infiltrierte

Im Göttingen von heute verdächtig: antifaschistisches Fahnenschwenken auf dem Bahnhofsvorplatz Foto: Swen Pförtner/dpa

Von Reimar Paul

Das Ausspähen der linken und alternativen Szene hat in Göttingen unrühmliche Tradition. Schon 1978 schleuste das niedersächsische Landeskriminalamt (LKA) zwei Agenten in den Göttinger Arbeitskreis gegen Atomenergie ein – „Wicky“ und „Rudi“ lauteten die Tarnnamen der Spitzel. Im Jahr davor hatte es die Großdemonstrationen in Brokdorf, Grohnde und Kalkar gegeben. Die Anti-AKW-Bewegung war zur Massenbewegung geworden, der Göttinger Arbeitskreis war damals zahlenmäßig eine der größten Gruppen und verfügte mit seiner Zeitschrift Atom Express bundesweit über Einfluss.

Die beiden LKA-Beamten kamen aus Hannover – in den dortigen Anti-Atom-Initiativen sei „nichts los“, da werde „zu viel geredet und zu wenig gehandelt“. Daher fuhren sie regelmäßig zu den wöchentlichen Arbeitskreistreffen nach Göttingen. Sie betreuten den Infostand auf dem Marktplatz, fuhren mit Göttinger Aktivisten zu Seminaren und sogar in den Urlaub.

Dass „Wicky“ viel filmte und fotografierte, erregte zunächst keinen Verdacht: Er erklärte es damit, dass er früher eine Fotografenlehre gemacht habe. Zum Fund einer Tränengasgranate in seinem Auto sagte er, er wolle sie bei der nächsten Demo loswerden, aber „nicht hinter mich“. Bei einer Diskussion über den Widerstand in Gorleben schlug „Wicky“ vor, eine Rauchbombe in eine Trafostation zu werfen, das gäbe einen „schönen Aufruhr“.

Enttarnt wurden die Spitzel durch Hinweise ehemaliger Schulfreunde: „Wickys“ und „Rudis“ angeblicher Wohnsitz in Hannover war früher eine Adresse des Drogendezernats der Polizei. Der damalige LKA-Chef Waldemar Burghard erklärte: „Interessiert hat uns allein ein harter Kern des Arbeitskreises, der sog. Koordinationsausschuß (KOA). Dieser KOA muß als Schwerpunkt der auch über Göttingen hinauswirkenden militanten Kräfte angesehen werden. Hier werden Aktionen geplant, bei denen – und daher kommt ihre evidente Gefährlichkeit – vor allem auch die Anwendung massiver Gewalt durchaus ins Kalkül gezogen wird.“

1982 veröffentlichten zunächst ein Anzeigenblättchen und dann, in größerem Umfang, die Alternative Grüne Initiativen-Liste (AGIL) Mitschnitte aus dem Polizeifunk: So wurde bekannt, dass in Göttingen geheime Polizeieinheiten operierten – ohne öffentliche Kon­trolle und offenbar auch ohne ausreichende rechtliche Grundlage. Sie nannten sich „Aufklärungs- und Festnahmekommandos“, rund 50 Beamte gehörten ihnen an. Ihr Auftrag: ständiges Beschatten, Provozieren und wenn möglich Festnehmen einzelner Linker oder kleiner Gruppen. Jugendzentren und Kneipen waren bevorzugte Observierungsziele. Gäste, die mit dem Auto nach Hause fuhren, wurden angehalten, ihre Personalien überprüft. Die Daten wurden an einen Computer in Hannover übermittelt, auf dem sich das Spuren- und Dokumentationssystem (Spudok) befand. Die Liste enthielt Hunderte Namen, darunter auch die des späteren Umweltministers Jürgen Trittin und einer querschnittsgelähmten Ehrenbürgerin der Stadt.

Im Funk unterhielten sich die Beamten zum Beispiel so: „X und Anhang gehen hier durch die Stadt. Wir wollen die ein bisschen beschatten. Aber so, dass wir denen auf den Hacken herumfahren … Der X wird schon nervös.“ – „Ja, wollt ihr sie jetzt mal anhalten? Einsacken …?“ – „Na, dann wollen wir sie mal einsammeln … Wir stoppen sie … Kommt ran.“

Die Spudok-Dateien seien vernichtet worden, versicherte das niedersächsische Innenministerium 1985. Waren sie aber nicht. Nach einem Brandanschlag auf das Göttinger Arbeitsamt tauchte die alte Aufstellung politischer Aktivisten wieder auf – mit denselben Schreibfehlern.

Im Vorfeld des Castor-Transportes nach Gorleben im November 2004 verfolgten LKA-Beamte den Göttinger Physikstudenten Daniel H. zwei Wochen lang auf Schritt und Tritt. Sie hörten mehr als 80 Telefongespräche von ihm und seinen Mitbewohnern ab, machten Videoaufnahmen, überwachten Kneipen- und private Kontakte und verfolgten H. einmal sogar bis auf die Uni-Toilette. Am Auto eines Bekannten brachten die Fahnder einen Peilsender an. „Das klingt alles nach einem schlechten Bond-Film in Niedersachsen“, urteilten die Landtags-Grünen nach Bekanntwerden der Observation.

Zur Begründung der Maßnahme hieß es seitens der Polizei, H. habe als Mitglied des Göttinger Anti-Atom-Plenums zu Blockaden gegen den Atommülltransport aufgerufen. Die Gestaltung eines Plakates, das zu einer Anti-Atom-Party einlud, wurde ihm ebenfalls zugeschrieben.

Das örtliche Verwaltungsgericht sah das anders und meldete schwere Bedenken gegen die Observation an. Die Polizei versprach, die gesammelten Daten des Umweltschützers „physikalisch zu löschen und zu vernichten“.