Gewerkschaften prangern Lohnraub an

Arbeitnehmer in der EU verlieren jährlich 1.764 Euro. Schuld daran sind auch bescheidene Lohnquoten

Ökonomen ignorieren den „Lohn-Diebstahl“ seit Jahrzehnten

Aus Brüssel Eric Bonse

Nicht die Löhne sind zu hoch, sondern das Kapital ist zu gierig geworden: Zu diesem Schluss kommt der Europäische Gewerkschaftsbund in einer neuen Studie. Der „Lohnraub“ durch den wachsenden „Shareholder-Value“ koste die Arbeitnehmer in der EU im Durchschnitt 1.764 Euro pro Jahr, rechnen die Experten vor. In Deutschland sollen es sogar 2.169 Euro sein, also fast 200 Euro im Monat. Entsprechend höher könnten Löhne und Gehälter ausfallen, wenn die Arbeitnehmer ihren „fairen“ Anteil am erwirtschafteten Einkommen erhalten würden.

Mit diesem Argument will der EGB seine Kampagne für Lohnerhöhungen in ganz Europa untermauern. Die Gewerkschafter berufen sich auf die Lohnquote, also den Anteil der Löhne und Gehälter am Volkseinkommen. Während die Lohnquote 1975 noch bei 72 Prozent lag, fiel sie 2017 auf weniger als 63 Prozent. Dass das ein Problem ist, bezweifelt kaum ein Ökonom. Allerdings haben sie noch nie die Verluste beziffert, die die Arbeitnehmer hinnehmen mussten. Genau dies holt der EGB nun nach. Um seine Zahlen zu berechnen, nahm er eine „sehr bescheidene“ Lohnquote von 66 Prozent zum Maßstab, wie sie Anfang der 90er Jahre erreicht wurde. Aus der Differenz zu heute ergibt sich der „Lohn-Diebstahl“.

Etwas besser klingt eine Studie zu Mindestlöhnen in der EU. 19 der 22 EU-Länder, die dieses Instrument nutzen, haben ihren Mindestlohn zum Jahresanfang oder im Laufe des Vorjahres erhöht, haben die Experten des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts (WSI) der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung errechnet. Im Schnitt stiegen sie um rund 4,4 Prozent. Da die Inflation wieder anzog, legten die Mindestlöhne real aber weniger kräftig zu: im Mittel um 2,8 Prozent. In Deutschland hätten die Bezieher des Mindestlohns hingegen zuletzt einen leichten Reallohnverlust hinnehmen müssen, heißt es in der Studie. Ihre Kaufkraft ist also nach Abzug der Teuerungsrate gesunken.

Seit Januar 2017 liegt die Lohnuntergrenze hierzulande bei 8,84 Euro pro Stunde. In Frankreich wird dagegen 9,88 Euro, in Belgien 9,47 Euro, in den Niederlanden 9,68 Euro und in Luxemburg gar 11,55 Euro gezahlt. Die höchste Lohndynamik beobachten die Tarifexperten in den mittel- und osteuropäischen EU-Ländern. Sie hätten die Lohnuntergrenzen zuletzt um 5 Prozent, zum Teil auch zweistellig erhöht. In den west- und südeuropäischen Mitgliedsländern reichten die Anhebungen von 1,2 Prozent in Frankreich bis 4 Prozent in Spanien, Portugal und Großbritannien.

meinung + diskussion