Mitgliederentscheid der SPD: Kopf über Herz

Als Generalsekretärin der SPD Baden-Württemberg kämpfte Luisa Boos in den letzten Wochen für die Groko – an die sie gar nicht glaubt. Was treibt sie an?

Luisa Boos

Luisa Boos zwischen Kopf und Herz Foto: Stefan Pangritz

Es ist Sonntag, der 21. Januar, graues Wetter im noch graueren Bonn. Die SPD hält zum zweiten Mal innerhalb weniger Wochen einen Bundesparteitag ab. Er besteht im Grunde aus einer einzigen, quälenden Debatte: Groko – ja oder nein? Um 13.43 Uhr zeigt die Liveübertragung, wie eine junge Frau ans Rednerpult tritt, dunkler Blazer, helle Strähnchen. Luisa Boos spricht ins dunkle Nichts des Saals: „Wisst ihr eigentlich noch, was ihr in eurer Kindheit abends nach dem Zubettbringen gemacht habt?“

Die Gesichter der Delegierten, die die Kamera einfängt, sind müde. Aber sie verändern sich, als Boos von der Sache mit dem Telefon erzählt. Das Telefon stand vor der Tür des Kinderzimmers, und hinter der Tür lag Luisa im Bett und lauschte dem Weinen der Erwachsenen, die jeden Abend versuchten, die im Bosnienkrieg festsitzenden Verwandten zu erreichen. „Ich weiß, wie es sich anfühlt, wenn Familien auseinandergerissen werden“, sagt Luisa Boos, 33 Jahre alt, bei Freiburg aufgewachsene Enkelin jugoslawischer Gastarbeiter und heute Generalsekretärin der SPD in Baden-Württemberg. Applaus setzt ein, als sie fortfährt: „Wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten sollten die Begrenzung der Familienzusammenführung auf 1.000 Personen nicht mittragen.“

Zu diesem Zeitpunkt ist längst abzusehen, dass die 1.000er Grenze beim Familiennachzug in einem möglicherweise kommenden Koalitionsvertrag stehen wird. Aber als Luisa Boos, langjährige Juso-Frontfrau und ausgewiesene Parteilinke, keine zwei Minuten später ihre Rede mit „Unsere Werte lassen wir uns nicht wie Butter vom Brot nehmen“ beendet, ist das kein Votum gegen die Groko. Es ist eines dafür. Eine Vernunftentscheidung für das kleinere Übel; Kopf über Herz. Luisa ist das Herz. Die Generalsekretärin der Kopf. Und ihre Partei ist jetzt in einer Lage, in der beides zusammen funktionieren muss.

Für die Generalsekretärin ist, wie sie den jetzt hellwachen Delegierten erklärt, eine einfache Rechnung entscheidend: 1.000 sind mehr als 0. Denn ohne Groko bliebe der Familiennachzug dank konservativer Mehrheit im Bundestag womöglich ganz ausgesetzt. In dieser Rede auf dem Parteitag materialisiert sich das ganze Gefühlschaos, in dem sich die Partei gerade befindet. Ist das, was Boos da gezeigt hat, nun Entschlossenheit, die die SPD dringend braucht? Oder ein Zeichen dafür, dass sie endgültig nicht mehr weiß, wofür sie steht?

Schulz hat längst abgesagt

An den Augenblick, in dem sie wusste, was sie auf dieser Bühne zu sagen hat, erinnert sich Boos noch einen Monat später sehr genau. In einem Ludwigsburger Festsaal hat sie gerade den Vormittag mit Lars Klingbeil verbracht, dem SPD-Generalsekretär auf Bundesebene. Es ist politischer Aschermittwoch, sie werben für die Groko, und es könnte besser laufen. Martin Schulz, am Vortag endgültig gescheitert, hat verständlicherweise abgesagt, aus dem Publikum kräht durchgehend ein wütender Altgenosse mit einem Schild, auf dem „SPD ohne Mutti“ steht, und beim Abschlussfoto mit Klingbeil springt ein Haufen Jusos mit NoGroKo-Zipfelmützen ins Bild.

Es ist also erstaunlich, dass Boos noch gute Laune hat, als sie nachmittags auf die Autobahn Richtung Südwest abbiegt. Drei Stunden Fahrt bis zum nächsten Termin. Blazer und Pumps behält sie an. Nach den abgeschlossenen Sondierungen Mitte Januar, so erzählt sie, während sie zügig auf die linke Spur wechselt, verkroch sie sich zwei Tage lang unter der Bettdecke, nachdem sie das Papier mit den Ergebnissen gelesen hatte: Kein höherer Spitzensteuersatz. Keine Bekämpfung der Kinderarmut. Stattdessen: Begrenzung des Familiennachzugs. „Als Luisa dachte ich: Das geht nicht. Das kann ich nicht mittragen. Und als Generalsekretärin: Oh, das wird schwer zu vermitteln.“ Aber sie war lange genug dabei, um gleichzeitig zu wissen: Sie muss. Und schrieb die Rede.

Der sportliche VW ist weinrot und glitzert in der Februarsone, innen riecht er fabrikneu. „In so’nem richtigem SPD-Rot gab’s den nicht“, sagt Luisa Boos und klingt nicht so, als würde sie das sehr bedauern. Mit „Funktio­närskarren“ kann sie nichts anfangen. Gerne besucht sie jeden kleinen Ortsverein, im Landesverband ist das vor allem ihre Aufgabe. Es ist ein bisschen so, als sei sie die Bürgermeisterin von Baden-Württemberg.

Tankstellenpause: Zigarette, Milchkaffee, Coldplay. Tut ihr die Groko-Entscheidung noch weh? Schiefes Lächeln. „Ja. Aber es gibt ja auch gutes im Koalitionsvertrag. Die Punkte zu Europa, Bildung und Familie zum Beispiel. Und die Finanzierung von Frauenhäusern.“ Europa, das ist ihr anderes Herzensthema. Zweimal wollte sie schon ins Europaparlament, dritter Versuch nicht ausgeschlossen, findet zumindest ­Luisa, während die Generalsekretärin einstreut, dass sie ihre Aufgaben erst mal im Land sehe. Sie bläst ein bisschen rote Gauloise in Richtung der französischen Grenze und erzählt vom Wahlkampf mit Martin Schulz, der sich bei jedem Treffen nach ihrem Jungen erkundigt habe.

Pragmatismus ist gefragt

Ihr jetziges Amt hingegen verdankt Boos nicht zuletzt etwas, was es in der SPD nur selten gibt: einem linken, durchsetzungsfähigen Frauennetzwerk. Für die Bundestagsabgeordnete Hilde Mattheis arbeitete sie acht Jahre lang. Als es dann nach der desaströsen Landtagswahl 2016 – die SPD landete mit knapp 13 Prozent hinter der AfD – neues Personal brauchte, wollte die designierte Landesvorsitzende Leni Breymaier Boos als ihre Generälin. Das krachte gewaltig in der ohnehin gespaltenen Baden-Württemberg-SPD. Vor allem die Pragmatiker aus der Landtagsfraktion hatten was gegen die junge Mutter, die einst ihren eigenen Juso-Kreisverband gründete, aber lange nicht in die SPD eintrat, weil ihr die nicht links genug war. Nun muss sie selbst pragmatisch sein. „Nicht aus Überzeugung, sondern weil die Alternativen auch nicht überzeugen“, das ist ihr Mantra.

Am Abend ist sie zu Gast bei einem kleinen Ortsverein in Steinen bei Lörrach, dicht an der Schweizer Grenze, der regelmäßig in beinahe rührend großer Gestik das „Rote Steuerrad“ an eine bedeutende sozialdemokratische Persönlichkeit verleiht. Die Steinener SPD trifft sich im Mehrzweckraum unter Neonröhren, in einer Reihe stellen sich alle für Bockwurst und Apfelschorle an. Das Durchschnittsalter ist über 60, man trägt Lesebrille und spricht Dialekt. Mehr Basis geht nicht, und hier wirkt Boos, die immer noch Blazer und Pumps trägt und der man nicht anhört, dass sie wieder im selben badischen Örtchen wohnt, in dem sie aufwuchs, dann doch plötzlich wie eine von denen, über die sie sich hier eigentlich heute den Frust von der Seele reden wollen.

Dieser Text stammt aus der taz am wochenende. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder gleich im praktischen Wochenendabo. Und rund um die Uhr bei Facebook und Twitter.

Dass sie ihre Dankesrede nachts um halb zwei geschrieben hat, merkt man dafür nicht. „Ich möchte, dass die Bürger wieder wissen: Hier steht ein Sozi und kann nicht anders“, dafür bekommt sie Applaus. Eigentlich geht es gerade um die Zukunft der SPD, nur wenige im Saal werden den Satz auch persönlich verstehen: Als Beschreibung dessen, was in letzter Zeit in ihr vorgegangen sein muss.

Wenige Wochen zuvor hatte Boos auf Facebook geschrieben: „Ich will keine erneute Große Koalition. Ich will kein ‚Weiter so‘.“ Das war Luisa, da sprach das Herz. Die Generalsekretärin muss derweil ihren Landesverband zusammenhalten, mehr denn je. Gelingt ihr das? Ruft man den Stuttgarter Fraktionsvorsitzenden an, hört man noch immer mehr Kritik als Lob für Boos, was angesichts der Lage, in der die Partei gerade steckt, eine umso deutlichere Spitze ist. Was ihr an nötigem Panzer fehlte, holte sie sich nach ihrem Amtsantritt bei einem Coaching, wie Boos im Gespräch später offen erzählt. Da lernte sie auch, was sie immer dann tut, wenn die Hand eines zutraulichen Genossen beim Gruppenfoto unter die Hüfte rutscht: „Einfach die eigene Hand drauflegen und kräftig zudrücken. Viele merken dann erst, wie unpassend ihre Berührung ist.“

In Steinen werden Hände bloß geschüttelt. Erst recht die des neusten Mitglieds: Dieter Gersabeck, 67, Pensionär. Er ist eingetreten, um gegen die Groko zu stimmen: ein Denkzettel. Obschon ihn Boos’ Rede begeistert – oder gerade deshalb: „Die müssen erst mal alle abtreten, damit sie an die Macht kommt.“ Boos steht daneben und lächelt nachsichtig.

Luisa Boos, SPD

„Wenn es der Partei noch schlechter geht, schlägt wieder die Stunde der vermeintlich starken Männer. Und das bringt uns nicht weiter“

„Die Groko-Debatte ist nicht die entscheidende Schlacht“, sagt sie am nächsten Tag in ihrem Freiburger Regionalbüro mit Blick über Stadt und Berge. „Das haben einige Denkzettelverfechter noch nicht verstanden. Wenn es der Partei noch schlechter geht, schlägt wieder die Stunde der vermeintlich starken Männer. Und das bringt uns nicht weiter.“ In der Ecke steht vergessen Martin Schulz als Pappfigur.

Luisa und die Generalsekretärin sind inzwischen Freundinnen, aber noch nicht eins geworden. Sie üben sich in Kompromissen: Gemeinsam mit GeneralsekretärInnen aus anderen Ländern hat Boos schon in der Sondierungsphase eine Halbzeitüberprüfung der Großen Koalition durchgesetzt.

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