Krach, Gefühle und Getöse

Die Berliner Produzentin Ziúr – experimenteller Berghain-Sound für alle, die sich trotz „Spiegel“-Boulevard-Geschichten noch hintrauen

Strapaziert gern die Hörgewohnheiten ihres Publikums: Ziúr Foto: Marc Krause

Von Johann Voigt

Was hat zeitgenössischer R&B von Rihanna mit dem mar­tia­lischen Gebrüll einer Hardcore-Band gemeinsam? Absolut nichts! Zumindest dann nicht, wenn man in Genredimensionen denkt. Doch die Berliner Künstlerin Mika Risiko, die unter dem Künstlernamen Ziúr Musik produziert und in Clubs auflegt, wagt den Bruch mit musikalischen Claims. Sie macht Genres überflüssig. Bei ihr zerfließen Hardcorepunk, R&B, Bass-Music und HipHop zu obskuren Klangcollagen. Ihr Kunstgriff ist es, dass sich Ziúr-Sound vollkommen organisch anfühlt.

Wie fruchtbar und vor allem tanzbar eine solche Dekonstruktion vorgefertigter Soundschablonen sein kann, zeigt sich am besten im Berghain, Berlins berühmter Rave-Kathedrale: In der Säule, jenem neu eröffneten Club im Berghain, in dem endlich experimentiert werden darf, hat Ziúr bereits mehrere Shows absolviert. Allesamt waren das Lärm-Ekstasen ohne lineare Grooves.

Zu den ins Unkenntliche manipulierten Vocals, den zu Donner modifizierten Gitarrensounds und dystopischen Synthpads, klackern Percussionelemente so, wie sie gerade Lust haben. Im Vergleich zumruling sound des industriellen Techno, der eine Etage weiter oben im Hauptfloor des Berghain läuft, lässt Ziúrs Soundmix Bewegungsfreiheit. Sie verzichtet auf jene Klangelemente, die die Crowd zum militärischen Stampfen animiert. Auch deshalb nahm Peaches Ziúr mit auf Tour.

Schon aus ihren Sets lässt sich lesen, wofür sie steht. In Interviews spricht sie sich offen gegen Misogynie und Rassismus aus. Außerdem kämpft sie mit Veranstaltungen in Berlin und zusammen mit dem weltweit agierenden Kollektiv „Sister“ für eine größere Akzeptanz von Frauen in der Musikindustrie und der Clubkultur. Denn noch immer geben überwiegend Männer vor, wozu am Wochenende getanzt wird. Dank Ziúr und anderen Soundtüftlerinnen wie Fatima Al Qadiri geht die Tendenz mittlerweile zwar in die richtige Richtung, aber wirklich fair geht es im Berliner Nachtleben noch immer nicht zu.

Seit knapp zwölf Jahren lebt Ziúr in Berlin. Wo die Kleinstadt liegt, aus der sie ursprünglich stammt, das muss keiner wissen. Joints dampften im Wald, Proberäume boten ein Dach über dem Kopf – mehr passierte dort nicht, wie sie dem Magazin Fader gestand. Nationalitäten spielen für Ziúr keine Rolle. Nicht nur die Musik, die sie auflegt, sondern auch ihre eigenen Produktionen klingen international, nicht nach Heimatfolklore. Sie bieten maximal eine Heimat für unterdrückte Emotionen, Fantasien und Utopien. In Ziúrs Musik findet all das codiert statt. Ihre persönliche Signatur dabei tatsächlich herauslesen zu können, bleibt unmöglich. Doch die Tracks sind ohnehin eher als eine Einladung zu verstehen: Dazu, sich selbst Gedanken darüber zu machen, was ihre Sounds in einem hervortriggern und, warum sie das tun.

Eine Antwort kann sein: Beklemmung, Furcht und ziemlich schnell auch Glück. Ihr vor Kurzem erschienenes Debütalbum „U Feel Anything?“ erzeugt Rausch und Rauschen gleichzeitig. Alles läuft ineinander, verbindet sich, stößt sich wieder ab und verschwindet schließlich ganz. Es fiept, surrt, klirrt metallisch und plötzlich durchdringen Drums so unmittelbar wie ein Schuss den Sound-Korpus und zersetzen ihn. Mal sind ganz leise die Industrial-Veteranen Throbbing Gristle herauszuhören, mal Dancefloor-Evergreens wie Trance und mal die Noise-Punk-Vergangenheit von Ziúr. Sie hat eine Vergangenheit in der Noise-Band Sisster.

Auf ihrem Debüt „U Feel Anything?“ elektronische Musik, die Menschliches in unmenschlichen Klängen offenbart. Auf „Body of Lights“, dem besten Song des Albums, wird plötzlich all die dissonante Sound-Zerstückelung zugunsten einer harmonischen Melodie aufgegeben. Für einen kurzen Moment fühlt sich alles wunderbar an, dann holt die Realität den Song ein: Gastsängerin Aïsha Devis gibt mit verfremdeter Stimme verzweifelte Laute von sich. Die Beklemmung kehrt zurück.

Ziúr dekonstruiert also die klassischen Strukturen der Tanzmusik. Die neu zusammengeschobenen Klangschichten sind trotzdem körperlich, nur eben nicht einlullend. Ziúr fordert, stichelt und löst etwas aus, das weit über die bloße Partystimmung hinausgeht. So sorgt die schließlich dafür, dass die Frage „U Feel Anything?“ bezogen auf elektronische Musik wieder einstimmig mit Ja beantwortet werden kann.

Ziúr: „U feel anything“ (Planet Mu/Cargo)

Various Artists: „Physically Sick II“ (Discwoman)

Live: 20. April „Female ­Pres­sure“, Tresor Berlin