Berichte über Belästigung in Schweden: Die Folgen einer Story?

Der ehemalige Leiter des Stockholmer Stadttheaters hat sich umgebracht. Zuvor wurde er in Berichten der sexuellen Belästigung beschuldigt.

Das Kulturhuset Stadsteatern in Stockholm

„Traurig und ungerecht“: Das Kulturhuset Stadsteatern in Stockholm Foto: imago/Imagebroker

STOCKHOLM taz | „Eine grenzenlose Medientreibjagd, die eine Wunde aufgerissen hat, die nicht mehr heilen konnte“, so nennt es Sture Carlsson, Chef des Kulturhuset Stadsteatern. Er spricht von seinem Vorgänger, Benny Fredriksson. Nach schweren Vorwürfen gegen seinen Führungsstil hatte Fredriksson im Dezember sein Amt als Chef des Stockholmer Stadttheaters niedergelegt. Vor gut zwei Wochen beging er Suizid.

Was Carlsson als „fürchterlich traurig und ungerecht“ bezeichnet, hatte am 5. Dezember 2017 mit einem Artikel in Schwedens auflagenstärkster Tageszeitung Aftonbladet begonnen. Darin war Fredriksson beschuldigt worden, unter seiner „harten Führung“ habe sich eine „Kultur des Schweigens“ ausgebreitet, in der Mitarbeiter sexuell belästigt würden und „wiederholt männliche Schauspieler Übergriffe begehen konnten, ohne dass das Folgen hatte“. So soll Fredriksson eine schwangere Schauspielerin aufgefordert haben, ihr Kind abzutreiben, wenn sie eine bestimmte Rolle haben wolle. Eine andere berichtete, er soll sie fest an die Oberschenkel gegriffen und gesagt haben: „Frauen, die so sexy und promiskuitiv sind, habe ich gern an meinem Theater.“

Mit „Rücksicht auf die Zukunft des Kulturhuset Stadsteatern“, aber „mit gutem Gewissen“ erklärte Fredriksson nach dieser Veröffentlichung seinen Rücktritt. Die Stadt Stockholm setzte eine Untersuchungskommission ein. Deren Abschlussbericht wurde am 22. März, mehrere Tage nach Bekanntwerden seines Todes, veröffentlicht. Darin heißt es zwar, dass einige Mitarbeiter tatsächlich unzufrieden mit Fredrikssons Führungsstil gewesen sein sollen. Für sexuelle Belästigungen findet der Bericht aber keine Belege. Von diesem Ergebnis soll Fredriksson gewusst haben, heißt es aus der Stadtverwaltung.

Åsa Linderborg ist Kulturchefin des Aftonbladet. An sie hatten sich MitarbeiterInnen des Theaters mit Anschuldigungen gegen ihren Chef gewandt. Linderborg hatte daraufhin Recherchen veranlasst, die nach ihrer Einschätzung „aus einem journalistischem Blickwinkel zu einer ungewöhnlich breiten Faktengrundlage“ geführt hätten. Herausgekommen sei das Bild eines Mannes, „der sich das Recht herausnahm, andere zu betatschen oder sogar gewalttätig zu werden“.

Eine Frage der Wortwahl

Am Tag nach dem Bekanntwerden von Fredrikssons Tod, habe sie dann „den schwersten Text meines Lebens schreiben müssen“, gesteht Linderborg. In diesem fragte sie sich selbstkritisch, welche Rolle sie und ihre Recherchen für den Tod gespielt haben. Linderborg, die selbst einige der 41 Interviews für die Recherche geführt hat, kommt zu dem Schluss: Sie würde heute kaum anders berichten. „Wir hatten zu viele Zeugenaussagen, um die Missstände in der Führung des Stadttheaters nicht aufzudecken“, schreibt sie. „Aber wir müssen uns öfter bewusst machen, welche Macht wir JournalistInnen haben.“ Einige Formulierungen und Überschriften würde sie heute aber gern ungeschehen machen.

Ausgerechnet Linderborg hatte als eine der wenigen schon im vergangenen Herbst vor einer „hysterisch gewordenen“ MeToo-Berichterstattung gewarnt. Davor, „dass diese vermeintliche Revolution die Rechtssicherheit, die Presseethik und in gewissem Masse auch den Feminismus untergraben könnte“.

Von Reitsportlerinnen und Lehrerinnen bis zu Politikerinnen, hatten nahezu täglich (prominente) Frauen Übergriffe angeklagt

Die Moderatorin und Bloggerin Cissi Wallinn sieht das anders. Warum überhaupt eine Verbindung zwischen Fredrikssons Tod und MeToo herstellen?, fragt sie. Vermutlich wisse nicht einmal seine Familie, warum er nicht mehr leben wollte. Natürlich sei jeder Suizid ein „kapitales Misslingen der Gesellschaft“. Aber daraus zu schließen, MeToo sei zu weit gegangen, sei ein Fehlschluss.

Seit Mitte Oktober letztes Jahres hatte MeToo wochenlang die schwedischen Medien beherrscht. Von Reitsportlerinnen und Lehrerinnen bis zu Politikerinnen, hatten nahezu täglich (prominente) Frauen Übergriffe angeklagt. Dabei wurden Übergriffe aller Art und teilweise Jahrzehnte zurückliegende vermischt. Dabei sei ein Sog entstanden, kritisiert Anna Hedenmo, TV-Journalistin und Vorsitzende der Journalistenvereinigung Publicistklubben. Die MeToo-Berichterstattung sei in Schweden zu weit gegangen. Und es sei journalistisch auch nicht immer sauber gearbeitet worden. Teile ihrer JournalistenkollegInnen hätten das Feld einer sachlichen Berichterstattung verlassen und sich von einer „gefühlsgesteuerten Kampagne mitreißen lassen“. Anschuldigungen seien unkritisch verbreitet und jegliche Zurückhaltung bei der Nennung von Namen aufgegeben worden.

„Wenn es aber ganz anders ist?“

Björn Werner, Kulturchef der liberalen Göteborgs Posten, stimmt zu. Natürlich sei man nachträglich klüger, aber dass es ein halbes Jahr und einen tragischen Selbstmord gebraucht habe, bis schwedische Redaktionen ihre Berichterstattung reflektierten, sei „too little too late“.

Die MeToo-Berichterstattung habe grundsätzliche Fragen zur Dramaturgie der Medien aufgeworfen, sagt auch Anne Lagercrantz, Nachrichtenchefin des öffentlich-rechtlichen Fernsehens SVT. Dort habe man Konsequenzen gezogen und sich neue Richtlinien für die eigene Nachrichtenarbeit gegeben: Man wolle mehr darauf achten, den ZuschauerInnen unterschiedliche Perspektiven anzubieten. Und öfter fragen: „Wenn es aber ganz anders ist?“

Hinweis: Wenn Sie Suizidgedanken haben, sprechen Sie da­rüber mit jemandem. Sie können sich rund um die Uhr an die Telefonseelsorge wenden (08 00/111 0 111 oder 08 00/111 0 222) oder www.telefonseelsorge.de besuchen.

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