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Was war das für eine Zeit, in die das Jahr 1968 mit dem weltweiten Willen nach Veränderung platzte? Sechs Schlaglichter – unter anderem auf alte Nazis, den Vietnamkrieg und einen berühmten Tomatenwurf

Essen, 30. März 1968: Auf einer Demo gegen den Vietnamkrieg Foto: Fotoarchiv Ruhr Museum/bpk

Krieg im Wohn-zimmer

Ein Bild sagt mehr als tausend Worte – wenige Ereignisse bestätigen diese Aussage so sehr wie der Vietnamkrieg. Redeten sich radikale Kriegsgegner in den USA und in Deutschland schon seit Kriegsbeginn in Rage, konnten erst Bilder aus den Kampfgebieten die öffentliche Meinung nachhaltig verändern und die Menschen berühren. Bilder wie das des „Napalm-Mädchens“ rüttelten die Menschen wach und trugen damit maßgeblich zur 68er-Bewegung bei.

Über keinen anderen Krieg wurde bis dahin so ausführlich im Fernsehen berichtet wie über den Vietnamkrieg. Es war das erste Mal, dass man zu Hause auf dem Sofa einen Krieg in all seiner Grausamkeit erleben konnte.

Ein Mann blickt zu einem Fahrzeug auf, darauf sitzen schwer bewaffnete Soldaten. In seinen Händen ruht der Leichnam seines kleinen Sohnes. Bilder wie diese waren es, die die Studierenden auf die Straße trieben. Ihr Feindbild war klar: die USA.

Allerdings kamen die Bilder nicht immer ungefiltert bei den Konsumenten an. Sie wurden beschnitten, editiert und aus dem Zusammenhang gerissen. Sogar das berühmte „Napalm-Mädchen“ ist eigentlich nur ein Ausschnitt des Originalfotos. Weggeschnitten wurde ein Kriegsfotograf, der gerade in aller Ruhe seinen Film wechselte.

Echt oder nicht – die Bilder zogen eine gigantische Protestwelle in nahezu allen Ländern nach sich. Und trugen in der Folge einen nicht unerheblichen Teil zum Abzug amerikanischer Truppen aus Vietnam bei.

Hannes Lensing

Faschismus und Autorität

Unter den Talaren – der Muff von 1.000 Jahren“ – diesen Spruch zeigten zwei Jura-Studenten im November 1967 beim Rektorenwechsel an der Hamburger Universität auf einem Transparent. Er steht bis heute für den damaligen Kampf gegen verkrustete Strukturen an den Unis. Bereits in den Jahren davor hatten Studierende die Nazi-Vergangenheiten ihrer Professoren erforscht – von „braunen Universitäten“ war die Rede. Nach der Erschießung des Studenten Benno Ohnesorg am 2. Juni 1967 in Berlin breitete sich die Bewegung rasant aus. Sie hatte aber keine konkreten Forderungen, zerfiel nach dem Attentatsversuch auf den Studentenführer Rudi Dutschke am 11. April 1968 in Untergruppen und verschwand.

Dutschke glaubte, dass Faschismus seine Wurzeln in autoritärer Persönlichkeit und der entsprechenden Erziehung habe. Der Gegenentwurf dazu war Antiautorität, ein zentrales Schlagwort der 68er-Bewegung. Kinder sollten ohne die Schläge und Zwänge aufwachsen, die in Kindergärten bis dahin durchaus vorkamen. Elternkollektive setzten dem die „Kinderläden“ entgegen. Über die „selbstbefreiten“ Kinder, denen selbst bei „Doktorspielen“ keine Grenzen gesetzt wurden, wird bis heute diskutiert und gespottet. Weniger Hierarchie und mehr Freiheit in Erziehung und Lehre sind dagegen fest in unserer Gesellschaft verankert. Jonas Mayer

Das Private und die Tomate

Parteien beitreten und wählen gehen, das durften Frauen im Jahr 1968. Diese ersten Schritte in Richtung politischer Gleichstellung hatte die sogenannte Alte Frauenbewegung etwa 50 Jahre zuvor im Kaiserreich und der Weimarer Republik erreicht. Doch vieles war im Jahr 1968 noch nicht möglich: Ohne Zustimmung ihres Mannes durften Frauen nicht arbeiten gehen. Die Vergewaltigung in der Ehe war nicht strafbar. Abtreiben war verboten.

Alles Rechte, für die die Frauen zu dieser Zeit kämpfen mussten. Die sogenannte Neue Frauenbewegung, die sich Ende der 1960er formierte, entfaltete Wucht durch den Wurf einer Tomate. Als im Sommer 1968 der Sozialistische Deutsche Studentenbund (SDS) eine Konferenz abhielt, sprach auch die damalige Sprecherin des „Aktionsrates zur Befreiung der Frauen“, Helke Sander, und forderte die Politisierung des Privatlebens. Zum Beispiel mit der Forderung, Kindererziehung nicht mehr als Aufgabe der Mütter, sondern als gesellschaftliche Aufgabe zu begreifen. Diese Rede wurde von den anwesenden Männern ignoriert. Das brachte die Frauen derart auf, dass eine von ihnen eine Tomate auf einen der Genossen im SDS warf. Nach diesem Ereignis organisierten sich in vielen Städten Frauen in sogenannten Weiberräten – sie forderten die grundsätzliche Umgestaltung der patriarchalischen Geschlechterordnung. Lisa Becke

Politik der Ent-spannung

Die Welt war 1962 nur knapp einem Atomkrieg entgangen. Sowohl der USA als auch der Sowjetunion hatte die Kuba-Krise klargemacht, dass eine Entspannungspolitik notwendig sein würde, um einen Dritten Weltkrieg zu verhindern.

Den ersten Schritt machte Präsident Kennedy, der 1963 in einer Rede an der American University in Washington für eine „Strategie des Friedens“ und Verständigung mit der Sowjetunion plädierte.

Es folgte die Einrichtung des „Heißen Drahts“. Die Fernschreiberverbindung zwischen Washington und Moskau ermöglichte eine schnellere Kommunikation, um Missverständnisse zu vermeiden und die Gefahr eines „zufälligen“ Kriegsausbruchs zu beseitigen.

Kurz darauf begannen die Supermächte mit ersten Abrüstungsverhandlungen. Die USA, die UdSSR und Großbritannien unterzeichneten 1963 ein Atomteststoppabkommen; 1968 folgte der Vertrag über die Nichtverbreitung von Atomwaffen.

Ab 1969 beteiligte sich auch die Bundesrepublik an der internationalen Entspannungspolitik. Die neue Ostpolitik Willy Brandts folgte dem Prinzip des „Wandels durch Annäherung“ mit den Staaten des Warschauer Paktes. Dieser Kurswechsel wurde zur Grundlage für die Wiedervereinigung 1990. Zelda Biller

Die 68er und die Nazis

Treiben wir die Nazi-Pest zur Stadt hinaus!“ Ein Flugblatt von VertreterInnen der 68er-Bewegung brüllt das heraus, was jahrelang missachtet wurde: Weil die „Flakhelfer-Generation“ zögerte, waren „Nazi-Richter“ oder „Nazi-Lehrer“ noch im Amt. Selbst Bundeskanzler Kiesinger war einst Mitglied der NSDAP. Kein guter Boden für eine fundierte Vergangenheitsbewältigung.

Schon vor 1968 fanden wegweisende Ereignisse der deutschen Erinnerungskultur statt, wie beispielsweise im Jerusalemer Eichmann-Prozess 1961. Die 68er-Bewegung machte die Kontinuitäten im Personal vom „Dritten Reich“ zur BRD zur gesamtgesellschaftlichen Agenda.

Die teilweise abstrusen Forderungen der 68er selbst beweisen die Notwendigkeit der Aufarbeitung: Für ihre Gegner seien sie „langhaarige Ersatzjuden“, die USA seien die SS und der Vietnam-Krieg das amerikanische Auschwitz. Heute gilt dies als verquere Geschichtsanalogie, der Grundstein für einen gesellschaftlichen Prozess wurde dennoch gelegt. Und letztlich ging die Strategie, Personen anzuprangern, auf: Der Umgang mit Altnazis wurde diskutiert, ohne die 68er hätte die Renovierung deutscher Vergangenheit wohl noch viel länger in den Hinterköpfen geschlummert. Christopher Kammenhuber

Im
kreativen Rausch

Im Glauben, auf Rauschreisen durch ferne Welten dem Sinn des Lebens näherzukommen, konsumierten 1968er-Hippies bevorzugt Cannabis und LSD.

Da Cannabis illegal war und vom Bürgertum verschmäht wurde, drückte sich im Kiffen der Protest gegen auferlegte Zwänge aus. Das damals noch legale LSD gelangte durch den US-amerikanischen Psychologen Timothy Leary in den Mittelpunkt der aufstrebenden Gegenkultur. Er propagierte in den 1960er Jahren die positive Wirkung von LSD auf den Geist einer ganzen Gesellschaft und gegen falsche Weltbilder. Freier Drogengenuss ging einher mit freier Liebe, freier Persönlichkeitsentfaltung und dem Aufbrechen festgelegter Lebensstrukturen.

Während Joints zum Habitus der Flowerpower-Bewegung gehörten, fühlten sich KünstlerInnen und PhilosophInnen vor allem auf LSD-Trips zu neuen Songs und politischen Konzepten inspiriert. Das Halluzinogen wurde aber nicht nur genommen, um die eigene kreative Gestaltungskraft auszuleben, sondern auch, um hemmungslosen und leidenschaftlichen Geschlechtsverkehr zu haben. Alkohol hingegen wurde von der pazifistischen Friedensbewegung abgelehnt: wegen seiner aggressiven Wirkung.

Katharina Korn