Nicolas Poussins Selbstporträt: Der Schatten der Existenz

Die Schwelle zwischen Drinnen und Draußen, Fiktion und Wirklichkeit: An Nicolas Poussins Selbstporträt kann man sehen, was die moderne Kunst antreibt.

Gemaltes porträr eines mittelalten Manns mit langen dunklen Haaren und Bart.

Nicolas Poussins erstes Selbstporträt von 1649 (Ausschnitt) hängt in der Berliner Gemäldegalerie. Foto: Jörg P. Anders/Staatliche Museen zu Berlin

Nicolas Poussin hat in seinem Leben nur zwei Selbstporträts gemalt. Das „Selbstporträt I“, das in der Berliner Gemäldegalerie hängt, hat der französische Barockkünstler im Jahr 1649 gemalt. Es steht im Schatten des berühmteren, ein Jahr später entstandenen „Selbstporträt II“, das im Pariser Louvre zu sehen ist. Das zweite Selbstbild ist dem ersten sehr ähnlich, aber von höherer Zeichendichte: Es enthält rätselhafte Bildelemente, die seit der Entstehung es Bilds viele Interpretationen provoziert haben.

Sein erstes Selbstporträt zeigt Poussin vor einem Stein, der von zwei schlafenden Putten gerahmt wird. Eine Inschrift listet Poussins Biografie auf: Name, Herkunft, Status, das aktuelle Datum und sein Alter. Kunsthistoriker haben darauf hingewiesen, dass diese Inschrift fast identisch ist mit einem Epitaph, der sich auf dem Grabstein seines Freunds, des flämischen Bildhauers Francois Duquesnoy in Rom findet, wo Poussin viele Jahre lang gelebt und gearbeitet hatte. Im Bild repräsentiert die Verbindung von Epitaph und porträtierter Figur die Vergänglichkeit der Malerei und des Lebens gleichermaßen.

Poussin platzierte seinen Kopf an diejenige Stelle des Grabsteins, an der man das Porträt des Verstorbenen sehen würde. Aber Poussin ist noch lebendig und wendet sich den Betrachtern zu. Der Blick ist noch auf sie gerichtet, aber scheint schon weiter in die Ferne zu schweifen. In seinen locker verschränkten Händen hält er einen Stift und ein Buch mit dem Titel „Licht und Farbe“.

Dieses Buch hat der Maler, der auch als Intellektueller, Forscher und Dichter bekannt war, nie geschrieben. Es verweist aber auf das Interesse des Malers an der Theorie der Farben, der Wissenschaft der Optik und an der rationalen Begründung der Malerei. Poussin stellte sich das Auge des Malers wie eine Art von Kamera vor. Für die Figuren, die er malen wollte, hatte er eine Modellbühne gebaut.

In neuem Licht: Die Berliner Gemäldegalerie beherbergt eine der bedeutendsten Sammlungen europäischer Malerei vom 13. bis 18. Jahrhundert. Doch nicht alle Werke werden gezeigt. Für die Sonderausstellung „In neuem Licht“ wurden bislang wenig oder noch nie gezeigte Werke aus dem Depot der Staatlichen Museen zu Berlin geholt.

Alte Meister: Bis Ende 2018 ist die Schau in der Wandelhalle der Gemäldegalerie am Kulturforum zu sehen. In der taz-Serie „Alte Meister“ stellt die Künstlerin und Autorin Tal Sterngast einzelne dieser nun ans Licht geholten Werke, aber auch andere Gemälde aus der Sammlung vor.

Seine erstes Selbstporträt zeigt eine Geste der Melancholie und erfasst das kontemplative Naturell des Malers, das auch diesem Gemälde zu seiner Existenz verhalf. Anders als im zweiten Selbstporträt, auf dem Maler sich frontaler und strenger präsentierte, strahlen hier die Augen. Ein leises Lächeln des Einverstandenseins mit der Welt kann von seinen Lippen gelesen werden.

Macht der Malerei

Poussin verachtete Caravaggio. Dieser, so lautete ein berühmt gewordener Spruch Poussins, sei in die Welt gekommen, „um die Malerei zu zerstören“. Poussin, der sechzehn war, als Caravaggio starb, versuchte die Werte der Renaissance wiederzubeleben, die Leon Battista Alberti zweihundert Jahre zuvor in seinem Traktat „Della Pittura“ über den Ausdruck der Leidenschaften und Gefühle durch Gesten formuliert hatte.

Alberti hatte die klassische Optik und die Perspektive als geometrisches Instrument zu Grundlagen der künstlerische Repräsentation erklärt. Er bewertete die Macht der Malerei höher als die der Freundschaft, weil sie abwesende Personen nicht nur gegenwärtig erscheinen lässt, sondern sogar den Nachgeborenen diejenigen vor Augen führt, die gestorben sind.

Die Betrachter der Toten erfreuen sich an ihrem Bild und bewundern die Fähigkeiten der Maler. Poussins Bild stellt einmal mehr die Frage der Porträtmalerei: Lässt das Porträt die reale Abwesenheit der abgebildeten Person vergessen? Oder erinnert sie uns an eben diese Abwesenheit?

Spiegelbild im Wasser

In seinem Handbuch erwähnt Alberti zwei verschiedene Ursprünge der Malerei. Einer davon wird in der Mythologie als der Moment beschrieben, in dem Narziss sein Spiegelbild im Wasser entdeckt. Alberti verstand die Malerei als die Kunst, dieses Spiegelbild im Wasser einzufangen. Die andere Quelle der Malerei erkannte Alberti in der Geschichte der Frau, die mit ihrer Hand den Schatten ihres Liebhabers an der Wand nachzeichnet.

Beide Aspekte finden sich in Poussins Selbstporträts – das Gemälde als Schatten von Existenz und Erscheinung und als Vehikel, die Erinnerung an das Bild des Liebhabers festzuhalten.

Eine Handvoll Staub

Die Inschrift über der Figur und der Titel des Buchs in ihrer Hand auf Poussins Selbstporträt weisen auf das Konkurrenzverhältnis zwischen den Medien hin. Poussins Zeitgenossen waren sich darüber einig, dass die Werke der bildenden Kunst vergänglich seien, während Texte längere Zeiträume überdauern könnten. Als ihn ein Fremder fragte, wo man in Rom Antiquitäten kaufen könne, hob Poussin eine Handvoll Staub auf und sagte: „Lassen Sie mich Ihnen die schönste Antiquität geben, die Sie sich wünschen könnten.“

Von den sechs Gemälden Poussins in der Gemäldegalerie, die allesamt restauriert werden müssten, scheint sein Selbstbildnis im schlechtesten Zustand zu sein. Der dunkle Stein ist nur noch sehr schlecht zu erkennen und unterscheidet sich kaum noch vom Gesicht und seinem Blick. Das Bild hat eine beinah monochromatische Oberfläche angenommen, und die Verglasung reflektiert grünliches Neonlicht, was eine Betrachtung aus der Nähe unmöglich macht.

Das ist besonders schmerzlich, weil so die Distanz verloren geht, die Poussin zwischen seinem Bild und dem Betrachter schaffen wollte. Poussins Bilder sind verschlüsselt und wollen interpretiert werden. Sie zeigen mythologische und biblische Motive, die allegorisch gelesen werden sollen. Aber nicht nur der Betrachter soll vom Bild distanziert werden, auch der Poussin selbst hielt kühlen Abstand zum eigenen Werk. Diese Distanzierungen, die dem Gemälde eigen sind, könnte kein technischer Apparat, auch kein Device der Gegenwart, besser herstellen.

Zugleich jeder und keiner

Poussin wandte sich gegen die Theatralisierung der Kunst und der Welt, die in Rom um 1630 einzusetzen begann. Jetzt konnten viel mehr Menschen Kunstwerke sehen und sie kannten sich auch viel besser mit Kunst aus. Die neuen Betrachter wussten das und standen für Poussins Begriffe daher zu selbstzufrieden vor den Bildern, wie Marc Fumaroli analysiert hat: „Der gebildete Betrachter hatte einen Schatten, und das war kurz gesagt sein eigener.“

In den Gemälden Caravaggios und seiner Jünger finden wir Figuren, die offen den Betrachter adressieren, doch Poussin war eben diese direkte Verbindung suspekt. In seinen Bildern scheinen die Figuren in sich gekehrt zu sein, sie scheinen die Existenz eines Betrachters, der zugleich jeder und keiner ist, nicht zu bemerken. Was der Philosoph Diderot im 18. Jahrhundert als Tableau bezeichnete, waren Bilder, die den Effekt hatten, den Betrachter vom Drama abzuschotten, das sich auf ihnen abspielte.

Es gibt ein Außerhalb

Das Galeriebild, das wir seit dem frühen Barock kennen, zeigt sich als frei hängende, rechteckige Konstruktion eines Bilds. Zugleich beruht es auf einer zwar monokularen, also einäugigen Perspektive, was ein in sich geschlossenes bildliches Universum erzeugt, das aber zugleich durch den Rahmen begrenzt wird. Diese Form des Bilds ist also von einem Widerspruch geprägt: Die durch den Rahmen vorgegebenen Grenzen des Bilds implizieren ein Äußeres, welches das Bild selbst ignoriert.

Dieses Außerhalb des Bildes gibt es aber. Es beeinflusst das Bild und verlangt nach Gewicht. Das Weiterexistieren des Rests der Welt außerhalb des Bildes ist im Bild nicht zu sehen, ist aber insofern präsent, als dieser Rest ebenfalls gesehen werden will. Diese Grenze oder Schwelle zwischen Drinnen und Draußen, Fiktion und Wirklichkeit, Einzelbild und Kontinuum der Welt, die den Betrachter aus dem Bild drängt, war eine der wesentlichen Energiequellen der westlichen Kunst bis heute.

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