Mord an brasilianischer Lokalpolitikerin: „Weiße Unschuld“ tötet

Im März wurde in Rio de Janeiro die Politikerin Marielle Franco ermordet. Die Ermittlungen laufen, keiner nennt das Tatmotiv: Rassismus.

Schwarze Frau mit Sonnenbrille hält ein Schild in der Hand mit einem Foto von Marielle Franco und dem Slogan: "Marielle Vive"

Demonstrantin für Marielle Franco, Sao Paolo, vier Wochen nach dem Mord Foto: dpa

Marielle Franco war auf dem Heimweg von einer politischen Diskussion, als sie am 14. März mitten in Rio de Janeiro durch mindestens vier Kopfschüsse getötet wurde. Ihre Mörder hatten bewusst auf die Rückbank des Autos gezielt. Mit Franco starb ihr Fahrer Anderson Gomes.

Der brutale Mord hat Menschen auf der ganzen Welt erschüttert. Internationale Medien berichteten, Zehntausende gingen auf die Straße. „Wir sind alle Marielle“, skandierten sie, in den sozialen Netzwerken entstanden die Hashtags #MarielleVive und #MariellePresente.

Wenige Tage nach dem Mord zeigten ballistische Untersuchungen, woher die tödlichen Kugeln kamen: aus dem ehemaligen Bestand der brasilianischen Bundespolizei. Dennoch sind die Mörder der außerordentlich beliebten 38-jährigen Politikerin bis heute nicht gefasst.

Der Sicherheitsminister Raul Jungmann erklärte kürzlich, dass viel dafür spreche, dass Milizen sie erschossen hätten. Franco war Mitglied in einem parlamentarischen Untersuchungsausschuss zu Milizen, also jenen paramilitärischen, mafiösen Gruppen aus teils Ex-, teils noch aktiven Polizisten, Soldaten, Feuerwehrmännern und Gefängniswärtern, die mit Waffengewalt die Favelas kontrollieren und Schutzgelder erpressen.

Das brutalste Land der Welt

Doch auch wenn die Ermittler immer neue Theorien über die Verdächtigen präsentieren, benennen sie nie einen ganz zentralen, wenn nicht den zentralen Aspekt dieses Mordes: Marielle war Schwarz. Der Anschlag auf sie fügt sich ein in eine Reihe von Hunderten Morden an brasilianischen Schwarzen – in einem Land, das sowieso zu den brutalsten der Welt gehört.

Rund 61.000 Menschen wurden hier laut staatlicher Statistik im vergangenen Jahr ermordet. Das sind sieben pro Stunde, ein neuer Negativrekord. Die Mehrheit der Opfer ist Schwarz. Junge Schwarze sind in Brasilien 2,6-mal mehr gefährdet, ermordet zu werden, als junge Weiße, berichtet das staatliche Instituto de Pesquisa Econômica Aplicada.

Antônia Gabriela P. de Araujo promoviert in Sozialanthropologie an der Bundesuniversität von Rio de Janeiro. Sie ist schwarz und forscht zu Post-Kolonialismus, Gender und der schwarzen Diaspora in Brasilien. Zudem ist sie Mitglied im Kollektiv „Tem cor age!“ und der Hip Hop Bewegung „Nós por Nós“ (Ceará)

Auch Medien thematisieren diesen Aspekt nicht. Stattdessen spekulieren sie. So mutmaßten Journalisten unmittelbar nach dem Anschlag, dass er begangen wurde, um die Bevölkerung zu verunsichern, damit sie militärischen Interventionen in Rio zustimmt.

Wenn der Mord an Marielle Franco aber nur ein politisches Druckmittel gewesen sein soll, warum musste der ermordete Körper wieder einmal ein Schwarzer sein? Wieso wird in der brasilianischen Öffentlichkeit kaum darüber gesprochen, was diese Tat auch gewesen ist: ein politischer, rassistischer Mord à la Malcolm X oder Martin Luther King.

So beliebt wie kaum eine Politikerin

Marielle Franco war eine leidenschaftliche Kämpferin für Menschenrechte. Geboren und aufgewachsen ist sie in Maré, einem Armenviertel von Rio. Sie studierte Soziologie und trat 2006 der Partei Sozialismus und Freiheit bei. Seit 2016 saß sie im Stadtparlament und war Präsidentin des dortigen Frauenausschusses. Polizeigewalt und Rassismus in den Favelas waren ihre großen Themen. Sie war so beliebt wie kaum eine andere Lokalpolitikerin.

Es gibt viele Fälle wie den von Marielle Franco. Da waren beispielsweise die weniger aufsehenerregenden, aber nicht minder skandalösen Morde an Cláudia Ferreira und Amarildo Souza. Ferreira wurde 2014 beim Einkaufen von der Militärpolizei angeschossen, in den Kofferraum eines Autos gestopft, aus dem sie während der Fahrt herausfiel, sodass sie blutüberströmt durch die Stadt geschleift wurde. Amarildo Souza „verschwand“, nachdem er auf einer Polizeiwache vernommen worden war.

Ihr Tod hat uns Schwarze wieder daran erinnert, was es bedeutet, als die „Anderen“ zu leben

Aber während es weltweit Diskussionen über Polizeigewalt gegen Schwarze in den USA gibt, interessiert der Rassismus in Brasilien noch nicht einmal die eigene Bevölkerung. Auch bei den zwei genannten Morden verschwiegen die brasilianischen Massenmedien, die Parteien und die Transparente auf den Protestkundgebungen die Hautfarbe ihrer Körper. Unter den Zehntausenden, die nach Marielle Francos Tod durch Rio zogen, suchte man Transparente mit expliziten Botschaften gegen Rassismus und gegen das endlose Morden an Schwarzen vergebens. Dabei waren es genau diese, für die Marielle Franco kämpfte.

Besonders problematisch ist, dass in den Berichten über den Mord an Franco zwar die räumliche Ausgrenzung und die zunehmende Polizeigewalt in Rios Favelas thematisiert werden. Dass die Menschen in den Favelas aber nicht nur arm, sondern vor allem Schwarz sind, und dass die soziale Spaltung der Stadt also rassistische Ursachen hat, wird aber verschwiegen. Das banalisiert die unermessliche Tragödie der Geschichte der Sklaverei in Brasilien. Anstatt sich mit den Strukturen rassistischer Ungleichheiten und weißer Privilegien auseinanderzusetzen, werden die Erinnerungen verwischt.

Wir müssen vom „Weißsein“ sprechen

Das konsequente Verschweigen von Francos Hautfarbe ist eine direkte Aufforderung, den Zusammenhang zu einer durch und durch rassistischen Gesellschaft, zu weißer Hegemonie und deren Ideologie herzustellen. Welche Personen sind es, die es ablehnen, auf Demos Flagge gegen Rassismus zu zeigen? Wer trägt dort das Megafon? Wer führt die Kundgebungen an? Wer weigert sich, die rassistische Agenda der Exekution zu benennen und warum?

Wenn wir das verstehen wollen, müssen wir vom Weißsein sprechen. Denn dass in der Aufarbeitung des Mordes Rassismus nicht als Motiv erkannt wird, liegt hauptsächlich daran, dass die politische Agenda von Weißen gemacht und durchgesetzt wird. Es gäbe unmöglich so viele Schwarze ermordete Körper in Brasilien, wenn sich nicht ein „großes weißes Monster“ im Getriebe dieser Tötungsmaschine verbergen würde.

Die Anthropologin Glória Wekker spricht von „weißer Unschuld“ und meint damit das Selbstbild, das viele Weiße von sich haben: als gerechte, ethische und nicht-rassistische Personen. Die „weiße Unschuld“ erlaubt es, aus einer (selbst-)sicheren Position heraus rassistische Motive zu ignorieren oder zu verneinen. Tatsächlich aber kolonisiert und mordet niemand mehr als 400 Jahre lang unschuldig.

Der Genozid an der Schwarzen Bevölkerung in der Diaspora hat mit Weißsein zu tun, weil Weiße ihre Privi­legien nicht aufgeben wollen. Ihre Macht, wissen, sprechen, schreiben, sich frei bewegen und definieren zu können, was die Anderen dürfen und was nicht.

Freiwilliges Unverständnis oder eine militante Ignoranz

Der Genozid an der Schwarzen Bevölkerung in der Diaspora hat mit Weißsein zu tun, weil das Weißsein ein weißes Ich hervorbringt, welches dazu neigt, den Rassismus der Welt in der es lebt, nicht verstehen zu wollen. So ist es ihnen möglich, wie die Philo­sophinnen Shannon Sullivan und Nancy Tuana zeigen, von ihren rassistischen Hierarchien zu profitieren. Sei es freiwilliges Unverständnis oder eine militante Ignoranz: Nur Weiße haben die Macht, die Frage des Rassismus abzulehnen oder zu vernachlässigen.

Militante Ignoranz und als „weiße Unschuld“ verkleidetes Weißsein stehlen Schwarzen die Bühne, die Stimme und den Raum. Man schwenkt gemeinsam die Fahnen des Feminismus und gegen Klassismus, aber die Fahne gegen Rassismus wird oft „vergessen“.

Marielle Francos Tod zeigt, dass „weiße Unschuld“ tödlich ist – für uns, die wir Schwarz sind. Nicht immer braucht es einen kaltblütigen Mord, oft reicht Alltagsrassismus, wie die Historikerin Beatriz Nascimento zeigt.

Da sind die vermeintlichen Querschläger bei Schießereien, die eine*n Schwarze*n treffen, oder die alltägliche­ Entmenschlichung und Sexualisierung unserer Körper: Wenn Mordstatistiken Opfer zählen, aber nicht deren­ ethnische Zugehörigkeit erheben, wenn Schwarze Ideengeschichte in den Unis verschwiegen wird, wenn Namen von Schwarzen Intellektuellen übergangen werden. Wenn die Schwarze Hausangestellte ohne Arbeitsvertrag beschäftigt wird, wenn es kaum eine*r von uns in Politik und Wirtschaft schafft, wenn unsere Kinder als „exotisch“ bezeichnet werden, wenn wir Mütter für das Kindermädchen gehalten werden oder gar für eine Kindesräuberin.

Menschenrechte nicht für Schwarze

Die Rechtsprechung brasilianischer Strafgerichte zeigt, dass mit Schwarzen Körpern anscheinend alles erlaubt ist: Sie werden von Polizisten blutüberströmt durch die Straßen geschleift, als religiöser Opferkult zu Tode gesteinigt, an Pfosten gefesselt zur Abschreckung, wie eine Vogelscheuche. Verur­teilt werden die meist weißen Täter selten. Menschenrechte scheinen für Schwarze nicht zu gelten, in Gerichtsverfahren von Schwarzen Opfern werden sie oft nicht erwähnt.

Marielle Francos Tod hat uns Schwarze wieder daran erinnert, was es bedeutet, als die „Anderen“ zu leben und zu sterben. Ja, wir sind die „Anderen“. Aber nicht weil wir Schwarz sind. Sondern weil uns Weiße dazu machen.

Aus dem Portugiesischen von Guido Schulz

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