zwischen den rillen
: Gott der Zeit und jüngstes Gericht

Unknown Mortal Orchestra: „Sex & Food“, (Jagjaguwar/Cargo)

Der westliche Mensch ist die Fliege auf dem Müllhaufen der Geschichte. Inmitten von abgetragenen Turnschuhen, Colaflaschen, alten Kleidern und Pornozeitschriften, inmitten von Essensresten und kaputtem Kinderspielzeug fristet er sein Dasein. Und irgendwo spielt noch eine alte Boombox ein Lied. Dieses Bild entwirft das Zeichentrick-Video zu „American Guilt“, der aktuellen Single des Unknown Mortal Orchestra. Es ist eine einzige lange Kamerafahrt über eine Müllkippe.

Während das Unknown Mortal Orchestra auf dem Vorgänger „Multi-Love“ von polyamouröser Liebe sang, wird es auf dem neuen Album grundsätzlich: „Sex & Food“ heißt es. Wie auf den vorherigen Alben unternimmt das Orchestra unter der Leitung von Frontmann Ruban Nielson Expeditionen in die Rock- und Popgeschichte, wobei das base camp psychedelische Rockmusik bildet.

Das ist nicht nostalgisch: Dieses Fundament entspricht nicht nur Nielsons Vorlieben, sondern zeigt die Unmöglichkeit, heute Rockmusik im klassischen Sinn zu machen und doch auf dem Müllhaufen ständig auf sie zu stoßen. Würde nicht die Erfahrung durch die Augen einer Fliege zu blicken, einem LSD-Trip nahekommen? Kein Wunder, dass gleich im zweiten Song „Major League Chemicals“ besungen werden: „She wanted to / Find a way / To be some­one else for a day / Major league chemicals make her grave / Miracles in a bathroom stall“.

Die Toilettenkabine im Club

Das ist das Prinzip des Unknown Mortal Orchestra: Eben noch „Major League“ und Kommentar zur Lage der Welt, dann schon wieder die Toilettenkabine im Club. Der erste Song des Albums, ein kaum eine Minute langer Auftakt, kündigt mit dem Titel „A God Called Hubris“ ganz große Fragen an und steigt dann mit einem maximalbanalen „Hey guys“ ein. Im Laufe von „Sex & Food“ geht es noch um das „Ministry of Alienation“, den Gott der Zeit, das jüngste Gericht sowie um den gegenwärtig wichtigsten Menschheitsmythos „Internet“.

Dazwischen findet sich eine Ode an die Tochter, die keine Fliege auf der Mülldeponie, sondern naturverbundene „Hunnybee“ ist. In „How Many Zeros“ geht es um die freudianischen Qualitäten der Autokorrektur.

Die Stimmung auf „Sex & Food“ hält sich die Waage zwischen psychedelischem Driften, düsterem und verzerrtem Geschrammel wie in „American Guilt“, R&B- und Disco-Referenzen wie in „Hunnybee“ und verspielteren Elementen, die sich beispielsweise im stolpernden Drumloop von „A God Called Hubris“ andeuten. Dramatisch und bedeutungsschwanger wechselt sich mit laid back, lustig – „no one will fuck an ugly robot“, heißt es in „Ministry of Alienation“ – und launisch ab. Zusammengehalten wird das Album von einem leicht kaputten, lo-fi klingenden Grundsound. Als wäre da etwas, was die äußere Welt nicht ganz heranlässt.

Das Cover zeigt einen Schutzanzug, der fern an die Kleidung von Fechter*innen oder Imker*innen erinnert. Auch er hält die Welt ein wenig auf Abstand. Dazu passt, dass „Sex & Food“ auf Reisen entstanden ist. In Auckland und Seoul, in Portland und Reykjavík, es hat ein Erdbeben in Mexiko City und die Monsunsaison in Hanoi überstanden. Es hat, wie man sagt, die Welt gesehen. Aus den facettenreichen Augen einer Fliege immerhin. Elias Kreuzmair