Das Schillern von Kabeln im Kreis

„DELPHI Rationale“, eine große Surround-Bild-Installation des Künstlers Philipp Lachenmann mit einem Teilchenbeschleuniger, ist in der Schering Stiftung zu sehen

Vielleicht hebt Sarod-Spieler Pandit Ranajit Sengupta gleich ab Foto: Schering-Stiftung

Von Brigitte Werneburg

DELPHI, in Versalien geschrieben, ist das Akronym für Detector with Lepton, Photon and Hadron Identification. DELPHI war einer von vier Detektoren des Large Electron-Posi­tron Collider im Forschungszentrum Cern in Genf. Im Jahr 2000 wurde der Teilchenbeschleuniger − einer der größten, der je gebaut wurde − außer Betrieb gestellt. DELPHI war zu Zeiten seines Einsatzes eine Berühmtheit: Die ikonischen Bilder der ästhetisch äußerst ansprechenden Einrichtung, die gleichzeitig einen unbedingt wissenschaftlich-technischen Charakter zeigt, sind in unserem kollektiven Gedächtnis abgespeichert. Wobei DELPHI zunächst als ein riesiges, durch breite Kabelgebinde in Sektoren unterteiltes Kreisgebilde auffiel, aus dem eine Röhre herausragte.

Diese Röhre gibt es nicht mehr. Das erlaubte es nun dem Künstler Philipp Lachenmann, einen Tisch vor das leere Zentrum zu stellen, auf dem sich der indische Sarod-Spieler Pandit Ranajit Sengupta niederließ, um einen Morgen-Raga zu improvisieren. Während wir ihm zuschauen und zuhören, geraten die Kabelgebinde auf wundersame Art und Weise in Bewegung. Zunächst glaubt man, seinen Augen nicht recht zu trauen, wenn ein einzelnes Kabel seine Farbe wechselt. Man deutet das als einen Lichtreflex. Doch dann, nachdem der Musiker seinen Raga beendet hat und weggegangen ist, wird sichtbar wie sich nicht nur ein beispielsweise safrangelbes Kabel in Tiefblauviolett verfärbt, sondern wie sich ein ganzer Strom von Farbe über die einzelnen Kabelgebinde ergießt.

Philipp Lachenmann, der sowohl Kunstgeschichte als auch Film studiert hat, bewegt seine Kamera, die er frontal auf den Musiker vor dem DELPHI gerichtet hat, nicht. Die Be­trach­ter*innen befinden sich also in ­gewisser Weise einem statischen Tafelbild gegenüber, dessen Motiv freilich durch ständig wechselnde Farb- und Tonfolgen bestimmt ist. Die beobachteten Farben sind dabei kodiert. Sie leiten sich aus drei Meisterwerken des Technicolorfilms her: Der Garten Allahs (The Garden of Allah, 1936), Vom Winde verweht (Gone with the Wind, 1939) und Der Zauberer von Oz (The Wizard of Oz, 1939). Dazu kommt noch die Farbe Tizianrot.

DELPHI Rationale, wie Lachenmann seine Installation in der Schering Stiftung nennt, reflektiert die mediale Erscheinung des großen Tafelbildes von der Renaissance – wofür, wie der Name schon sagt, das Tizianrot steht – bis zu seinem Auftritt als Farbfilmprojektion im 20. Jahrhundert. Gleichzeitig scheint der Titel aber zu indizieren, dass es sich mit vernunftgeleitetem, zweckgerichtetem Denken und Handeln nicht so einfach verhält.

Das fängt schon damit an, dass es Wissenschaftler lieben, ihren Akronymen die Form bedeutungsschwerer Namen zu geben. In Genf also knüpfte man an das Orakel von Delphi an, die wichtigste Weissagungsstätte der hellenischen Welt, die bis in die Spätantike bestand. Die Aussagen des Orakels waren bekanntlich interpretationsbedürftig, was zunächst auch für die Ergebnisse des Teilchendetektors gilt, selbst wenn am Ende ein definitiver Nachweis steht.

Ironie gehört mithin zum Betrieb der exakten Wissenschaften, und Ironie ist ohne den Zweifel an just dieser Exaktheit des Wissens und seiner Apparate nicht zu haben.

Jedes der fast tausend Kabel wurde isoliert und entsprechend für den Farbablauf nachgefahren

Und wie rational war der unbedingte Wunsch von Philipp Lachenmann, im Cern zu drehen? Genauer gesagt, im Large Hydron Collider, dort, wo 2012 (allerdings im CMS-Detektor) das Higgs-Boson nachgewiesen wurde, der letzte noch fehlende Puzzlestein des Standardmodells der Teilchenphysik.

Ganz rational erfolgten dann freilich die Planung und Umsetzung der Idee. Denn Phi­lipp Lachenmann hatte nur je drei Stunden Zeit, verteilt auf zwei Tage, um seinen Drehort einzurichten und dann aufzunehmen. Sein bewegtes Farbgemälde ist denn auch ein ­Triumph der Postproduktion. Fast zwei Jahre dauerte es, im Team mit Spezialisten jedes der fast tausend Kabel zu isolieren und entsprechend einem Programm für den ­Farbablauf nachzufahren. Dazu entstand ein raffiniertes Sounddesign, das die Farbspiele begleitet.

Vernunftgeleitet war auch die Recherche der Technicolorfarben; gleichzeitig sind sie aber vor allem Medium, unsere Emotionen anzusprechen. Der Morgen-Raga wiederum, der weder eine präzise Notenschrift noch eine mathematisch Struktur in ganzen Tönen und Oktaven wie die europäische Musik kennt, spricht ebenfalls unsere Gefühle an − gerade weil er uns mit seinen Shruti genannten Mikrointervallen so fremd ist. Und schaut man noch einmal auf die gleißende Sonnenscheibe des DELPHI, dann ist dieser Hightech-Apparat genau der richtige Ort für die Begegnung von Vernunft und Emotion.

Bis 24. Juni, Schering Stiftung, Unter den Linden 32–34, Do. bis Mo. 13–19 Uhr Heute Vortrag der Physikerin Tara Shears von der Universität Liverpool, danach Konzert von Pandit Ranajit Senguptae, Anmeldung erforderlich, ab18 Uhr