Christian Krachts Frankfurter Vorlesung: Zweifellos kein Eichenlaub

Rätselhaft war lange die Haltung Krachts zu seinen Figuren. Nach seiner MeToo-Offenbarung befasst er sich nun mit seinen kognitiven Dissonanzen.

Ein jungen Mann sitzt auf einem roten Sofa, auf dem Tisch neben ihm steht ein Milchkarton

Im Rückblick erscheint Christian Kracht als ein anderer. Hier zu sehen in Berlin, im Jahr 2002 Foto: Imago/Christian Thiel

Als Christian Kracht die Lesebühne im Literaturhaus Frankfurt betritt, schweben in den vorderen Reihen des Auditoriums zahlreiche Kugelschreiber über Notizbüchern. Das Feuilleton lauscht. Wird er neue Einzelheiten über den Missbrauch preisgeben, dem er als Zwölfjähriger im kanadischen Internat ausgesetzt war? Mehr über den Selbstmordversuch der Mutter? Neues vom hochmächtigen Vater? Damit wir am Ende nicht nur einen Schlüssel, sondern einen rasselnden Schlüsselbund zu seinem Werk in Händen halten?

Die Bühne betritt ein leicht verhuschter 51-Jähriger in seiner üblichen Panzerung, Pullunder, grüner Parka, runde Brille und Bart, nach gängigen Vorstellungen eher Männlein als Mann. Er nimmt Platz, gießt Wasser in ein Glas, schaut sich um und spricht die einzigen freien Worte aus, die er an diesem Abend von sich geben wird: „Wir kehren jetzt einfach wieder zurück zum Text.“

In seinen drei Vorlesungen zur Poetik an der Universität von Frankfurt hatte er immer wieder mit kleinen Ausfallschritten den Text verlassen – und mit lakonischen Exkursionen in die eigene Biografie ein Beben in der Leserschaft, vor allem aber in literaturwissenschaftlichen Zirkeln ausgelöst.

Abzusehen war das nicht. Was seine Vorgängerinnen und Vorgänger an dieser ehrwürdigen Stelle zu sagen hatten, war nicht von großem öffentlichem Interesse begleitet. Von welchem Vergil eine Sibylle Lewitscharoff sich an die Hand nehmen ließ, mochte man gar nicht so genau wissen. Dass Thomas Meinecke an der performativen Dekonstruktion des Autorenbegriffs arbeitet, dürfte dem Publikum schon vor seinem Auftritt in Frankfurt nicht entgangen sein.

Anders lag der Fall bei Christian Kracht. Unwahrscheinlich, von dieser Sphinx eine poetische Programmatik zu erwarten. Selten waren die Erwartungen an die Selbstauskunft eines Dichters größer – und zugleich geringer. Geschürt hatte er sie mit fünf Romanen, von „Faserland“ bis „Die Toten“, in denen es um den Dandy ging und den irrlichternden Einzelgänger, die Feier der Oberfläche und die Auslotung der Tiefe. Mit ihrem Labyrinth aus Referenzen könnte man ein germanistisches Proseminar mühelos ein ganzes Semester beschäftigen.

„Wunderkind der Bohème“

Auch gibt es nur wenige zeitgenössische Schriftsteller, die so mit Zuschreibungen bombardiert wurden wie Christian Kracht: „Wunderkind der Bohème“, altershalber; „Dandy“, der sorgfältig ausgewählten Kleidung wegen; „parfümierter Popschnösel“, wegen seiner königlichen Tristesse; Meister der mehrfach gespiegelten Ironie sowieso. Krachts Reisenotizen aus Asien wurden als „elitärer Ennui“ und seine Begeisterung für Kim Jong Il für bare Münze genommen.

Angst und Hadern: Ein Schrift-steller, was ist das? Und wovor könnte er sich fürchten?

„Imperium“, über einen deutschen Kolonialisten, trug ihm den Vorwurf ein, ein „Céline seiner Generation“ und also talentierter Antisemit zu sein. Zuletzt, angesichts von „Die Toten“, warfen Kritiker ihm mangelnden Witz vor. Und einen Manierismus, der an Thomas Mann geschult war, dessen Zürcher Grab der Held von „Faserland“ vergeblich suchte. Rätselhaft war weniger die Sprache seiner Erzählungen, rätselhaft war in erster Linie die Haltung des Künstlers zu seinen Figuren und Sujets.

Der Umstand, dass Kracht sich diesen Fragen durch beharrliches Schweigen und Emigration nach Los Angeles entzog, machte die Neugier noch größer. Unklar, ob wirklich Bescheidenheit oder doch Selbstinszenierung dahintersteckte. Es war nur einer von vielen Vorwürfen, auf die zu reagieren ihm ein Bedürfnis gewesen sein muss: „Als wäre es nicht möglich, ein Schriftsteller zu sein, der Angst davor hat, ein Schriftsteller zu sein!“

„Emigration“ war auch der Titel seiner Frankfurter Vorlesungsreihe, der er sich mit maximaler Gewissenhaftigkeit angenommen hat. Im Reden über sich selbst und seine Bücher, sagte er eingangs, klinge er allzu oft wie „ein autistischer Säugling“. Er sprach von der „Angst, zu Ihnen zu sprechen“ und seinem Hadern mit der eigenen „Talentlosigkeit“. Ein Schriftsteller, was ist das? Und wovor könnte er sich fürchten?

In einem Internat in Kanada

In seinen Vorlesungen ließ Christian Kracht nicht nur ein Senkblei hinab, er stieg selbst in den „trüben Erinnerungstümpel“ hinein, auf dessen Grund die verschüttete Erfahrung gärte, im Alter von zwölf Jahren an einem Internat in Kanada sexueller Gewalt seitens eines Priesters ausgesetzt gewesen zu sein. Hier ist sie, die Erfahrung. So war das. Ich hatte es selbst verdrängt, vergessen, verdaut, meiner eigenen Erinnerung misstraut, wie mir auch meine Mutter nicht glaubte. Me, too.

Damit widerspricht Kracht der Auffassung, seine Texte seien nur Texte über Texte, ein unendliches und inhaltsloses Spiegelkabinett spielerischer Uneigentlichkeiten. Das Nichts, das im Werk des Nihilisten vermutet wurde, stellt er nun vor als schwarzes Loch, um das seine Galaxien schon immer kreisten.

Diese Offenbarung war nicht der dramatische Höhepunkt der Vorlesung, sondern der rhetorische Ausgangspunkt einer Selbstbefragung. Wie wurde ich, was ich bin? Warum schreibe ich, wie ich schreibe? Im frühen Trauma meint Kracht einen Generalschlüssel zum eigenen Werk gefunden zu haben. Zitiert die Peiniger und Gepeinigten aus seinen Romanen herbei, all die Gefühlskalten, Gelangweilten, Kraftlosen. Sogar ein Priester ist dabei, der sich hinter einem kleinen Jungen selbst befriedigt. Der Schlüssel passt auf viele Türen.

Ringen mit den Dämonen

Staunend erkennt der Autor sein eigenes Schreiben als paratherapeutische Tätigkeit, als sublimes Ringen mit den Dämonen der Kindheit: „Die Heilung für den Missbrauch ist immer die Kunst.“ Einerseits ist das Apodiktische und Überspannte dieser Rede eine scharfe Abgrenzung zu den weichen Innerlichkeitsresten der Achtundsechziger und deren „pädagogischem Eros“; Kracht erwähnt auch Salem, die Odenwaldschule denkt man mit. Andererseits belässt er es nicht dabei, schneidet tiefer. Und betritt, nachdem er die literaturwissenschaftliche Interpretationsmaschinerie mit einem ganzen Eimer Sand zum Stillstand gebracht hat, endlich das Kontrollzentrum seiner Poetologie. Und begegnet dort einem Paradoxon.

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Wie kann Kunst retten, wenn sie sich doch mit ihrem hohen Ton „selbst freigibt für die Parodie“? Wie könnte man kunstreligiösen Kitsch vermeiden? Wie also wäre ein Ernst zu erhalten, der um seine innewohnende Lächerlichkeit weiß? Wie kann etwas zugleich Welle und Teilchen sein? Eben das ist der Weg, den Kracht zur Lösung seines poetologischen Paradoxons eingeschlagen haben will. Er nennt es „Quantenverschränkung“, scherzhaft „Quantenpseudotelepathie“ und meint damit handwerklich den Einbau „kognitiver Dissonanzen“ in den Text. Surreale Splitter, die das kohärente Kontinuum der Erzählung für einen Augenblick aufheben. Unmögliche Bilder, wie der Windsurfer, der bei einer Jane-Austen-Verfilmung im Hintergrund über das Meer gleitet. Oder, im eigenen Werk, ein dezent sinnloser und leicht zu überlesender Satz wie „Zweifellos lag kein Eichenlaub zu seinen Füßen.“

Ein Satz von Alain Robbe-Grillet, als Spolienstein verbaut in „Die Toten“, aus denen Kracht an diesem Abend im Literaturhaus liest, für anderthalb Stunden, unterbrochen nur vom Griff zum Wasserglas. Bald werden Kugelschreiber und Notizbücher weggepackt, kommen zerfledderte Ausgaben von „Die Toten“ zum Vorschein.

Wir kehren jetzt einfach wieder zurück zum Text.

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