Lafontaine über parteiinternes Mobbing: „Täter stellten sich als Opfer dar“

Vor dem Parteitag spricht Links-Politiker Lafontaine über den Richtungsstreit. Und darüber, wie es um die Pläne für eine linke Sammlungsbewegung steht.

Oskar Lafontaine sitzt in einem Büro und spricht

Lafontaine in Saarbrücken. Dem Linken-Bundesparteitag in Leipzig bleibt er fern Foto: dpa

taz: Herr Lafontaine, in einer Woche trifft sich die Linkspartei zum Leipziger Parteitag. Fahren Sie hin?

Oskar Lafontaine: Nein, ich bin kein Delegierter.

Sie schauen sich das Ganze im Fernseher oder im Netz an?

Sicher.

Am Sonntag hat die Linken-Bundestagsabgeordnete Sevim Dağdelen die Parteispitze um Katja Kipping und Bernd Riexinger angegriffen. Die beiden würden gegen Fraktionschefin Sahra Wagenknecht vorgehen, statt zu integrieren. Wagenknecht und Sie haben schon in der Vergangenheit Ähnliches gesagt. Teilen Sie Dağdelens Auffassung immer noch?

Halten wir uns an Tatsachen. Nicht die Fraktionsführung hat versucht, die Parteiführung zu entmachten, sondern die Parteiführung hat versucht, die Rechte der Fraktionsvorsitzenden zu beschneiden. Das war zumindest kein integrativer Akt. Nicht die Fraktionsspitze hat gesagt, sie wolle die Parteiführung wegmobben, sondern der Parteivorsitzende Riexinger hat in Madrid nach einigen Gläsern Wein die Absicht bekundet, Sahra Wagenknecht wegzumobben.

Das bestreitet Riexinger.

Klar. Aber es liegt eine eidesstattliche Versicherung dafür vor. Nicht die Fraktionsspitze hat die beiden Vorsitzenden beleidigt, sondern vor allem Sahra Wagenknecht werden Rassismus, Nationalismus und AfD-nahe Positionen vorgeworfen, vor allem aus dem Umfeld der Parteivorsitzenden. So etwas ist nicht geeignet, die Zusammenarbeit auf eine tragfähige Basis zu stellen.

Wie hilfreich ist es denn, umgekehrt Vorwürfe gegen die Parteiführung in der Öffentlichkeit immer wieder zu wiederholen?

Das ist notwendig geworden, als sich die Täter als Opfer darstellten.

74, ist Fraktionschef der Linkspartei im saarländischen Landtag. Von 1995 bis 1999 war er SPD-Vorsitzender, von 2007 bis 2010 Vorsitzender der Linkspartei.

Nach diesem Streit wäre anzunehmen, dass es auf dem Parteitag Gegenkandidaturen gegen Kipping und Riexinger geben würde. Es gibt sie aber nicht.

Das müssen Sie die zuständigen Akteure fragen. Vielleicht liegt es daran, dass die Fraktionsspitze die Partei nicht in eine Zerreißprobe treiben will.

Worauf zielen denn dann die Angriffe auf die Parteispitze – auf einen Denkzettel bei der Wiederwahl?

Das ist aus meiner Sicht ziemlich uninteressant. Es geht auch in der Partei Die Linke um einen Konflikt, der weltweit die traditionellen Arbeiterparteien einschließlich der Demokraten in den USA seit Jahren beschäftigt. Am besten hat dies die amerikanische Philosophin Nancy Fraser auf den Punkt gebracht, indem sie von einem „progressiven Neoliberalismus“ sprach und ihn so definierte: Minderheitenthemen, die durchaus wichtig sind, wie etwa die Rechte der Homosexuellen oder die Rechte der Migrantinnen und Migranten, rücken in den Mittelpunkt des linken Diskurses und verbünden sich mehr oder weniger mit dem vorherrschenden neoliberalen wirtschaftlichen Denken. Hillary Clinton war die Symbolfigur dafür. Dann kommt es zu massiven Abwehrreaktionen der Verlierer der neoliberalen Globalisierung, die auch in Deutschland zu beobachten sind. Arbeitnehmer oder Arbeitslose wählen zum Teil AfD, weil sie sich von den linken Parteien nicht mehr vertreten fühlen.

Was hat die Parteispitze damit zu tun?

Auch die Partei Die Linke verliert bei Arbeitern und Arbeitslosen. Bei Arbeitnehmern gibt es die Bereitschaft, anderen zu helfen. Aber wenn die beiden Parteivorsitzenden fordern, alle, die nach Deutschland kommen, sollen ein Bleiberecht haben und 1.050 Euro im Monat erhalten, dann schütteln die meisten nur noch mit dem Kopf. Weil man die Frage der Finanzierbarkeit ausklammert, was auf dem jetzigen Parteitag wieder geschehen soll.

Inwiefern?

Im Leitantrag steht der bemerkenswerte Absatz: „Jahrelang haben die Menschen erfahren, dass öffentliche Gelder nur im Konkurrenzkampf verteilt werden: für die Bibliothek oder den Sportplatz, für die Schule oder den öffentlichen Nahverkehr – für Geflüchtete oder für die einheimische Bevölkerung. Diesen falschen Gegensätzen stellen wir uns entgegen. Wir wehren uns dagegen, dass die Bedürfnisse der Menschen gegeneinander ausgespielt werden.“ Keiner bestreitet, dass über eine andere Steuerpolitik und höhere Einnahmen auch mehr öffentliche Leistungen finanziert werden können. Aber wir können nicht so tun, als stünden grenzenlos Haushaltsmittel zur Verfügung. Zudem ist es absurd, wenn mit großer ideologischer Hartnäckigkeit die Lohn- und die Mietkonkurrenz geleugnet werden, die entstehen, wenn sehr viele Menschen zu uns kommen.

In der sogenannten Liebeserklärung an die Linkspartei, die von vielen Landesvorsitzenden unterzeichnet wurde, heißt es: „Wenn Wohnungen für Deutsche und Geflüchtete nicht reichen, dann heißt die Lösung nicht ‚Geflüchtete raus‘, sondern ‚mehr Wohnungen‘.“ Was ist daran falsch?

Niemand von uns ruft „Geflüchtete raus“. Aber mit dem Allgemeinplatz „mehr Wohnungen“ drückt man sich vor der Einsicht, dass auch Wohnungen nicht unbegrenzt gebaut werden können. Schon gar nicht kurzfristig.

Sie haben kürzlich in einem Spiegel-Interview gesagt: Politisch Verfolgte müssen Asyl erhalten, Kriegsflüchtlingen muss geholfen werden. Ein paar Absätze später sagen Sie: Ich bin für die Sicherung der europäischen Außengrenzen. Soll der Dublin-Status weiterhin gelten, dass die Staaten an den europäischen Außengrenzen wie Italien oder Griechenland die Flüchtlinge aufnehmen müssen?

Ich bin für eine Verteilung der Schutzbedürftigen innerhalb der europäischen Staaten. Das ist bislang aufgrund der Fehler der Bundeskanzlerin im Jahr 2015 leider gescheitert. Wenn wir das Europa der Werte beschwören, können nicht nur einzelne Länder helfen, während andere diese Hilfen mehr oder weniger verweigern.

Dann sagen Ihnen Kritiker aus der eigenen Partei, es wäre nicht zumutbar für Flüchtlinge, sie etwa in Bulgarien oder Ungarn unterzubringen.

Das heißt, die Flüchtenden dürfen auswählen, wo sie Aufnahme finden wollen. Dann werden sie, was ihnen niemand verdenken kann, in die Länder gehen, wo es die besten sozialen Leistungen gibt. Das ist auf Dauer nicht aufrechtzuerhalten.

Sie haben zusammen mit Sahra Wagenknecht eine Sammlungsbewegung angekündigt. Jetzt sieht es so aus, als würde, wenn es losgeht, die aus nicht viel mehr als einer Homepage bestehen. Haben Sie sich verzockt?

Wie kommen Sie darauf? Ich verstehe die Sammlungsbewegung als Appell an die linken Parteien, ihre eigene Situation zu reflektieren. SPD, Grüne und Linke werden mit ihrer jetzigen Aufstellung auf absehbare Zeit keine politische Mehrheit haben, weil der progressive Neoliberalismus zu sehr die Agenda bestimmt. Mein Anliegen ist, dass die traditionellen Gerechtigkeitsthemen wieder von diesen Parteien aufgegriffen und vertreten werden. Die Resonanz ist schon jetzt groß. Wir bekommen viele Anfragen, wie man mitwirken und sich beteiligen kann. Dass wir derzeit keine große Bewegung auf der Straße haben, wie die Montagsdemonstrationen gegen die Agenda 2010, weiß ich auch. Aber das entbindet nicht davon, nach Wegen zu suchen, um politisch etwas zu verändern.

Was passiert dann konkret im Herbst, wenn Sie starten wollen?

Wir haben ja ein Beispiel in La France insoumise in Frankreich. Dort gelang es, über eine Internetplattform viele Menschen zu sammeln. Das war die Grundlage für die Kandidatur von Jean-Luc Mélenchon zur Präsidentschaftswahl. Natürlich haben wir ein anderes Wahlsystem und eine andere Ausgangssituation. Aber die digitalen Medien sind heute der beste Weg, um eine solche Sammlungsbewegung in Gang zu setzen.

Eine eigene Partei soll das nicht mehr werden?

Das war von Anfang an ein von Journalisten und einigen „Parteifreunden“ befeuertes Missverständnis.

Wenn Sie wieder linke Mehrheiten haben wollen, brauchen Sie auch die SPD. Wenn deren Umfragewerte auch in einem Jahr noch zwischen 15 und 20 Prozent stehen: Bleibt die SPD eisenhart in der großen Koalition?

Es ist schwer, heute noch Prognosen zur SPD abzugeben. Das Kernproblem der SPD ist, dass sich ihr Führungspersonal weigert, auf die Stimmen der Wählerinnen und Wähler zu hören. Man hat den Eindruck: Selbst wenn die SPD weniger als 10 Prozent bekäme, wäre die Parteispitze nicht der Meinung, sie müsste ihre Politik ändern.

Vor dem erneuten Gang in die Große Koalition gab es doch einen größeren Basisaufstand. Ein Zeichen der Hoffnung?

Ich hoffe seit fast 20 Jahren. Meines Erachtens war die Argumentation der Jungsozialisten gegen die Große Koalition, die ich begrüßt habe, zunächst zu wenig inhaltlich unterlegt. Jetzt erheben sie zwar einige Forderungen, die klassische Forderungen der Partei Die Linke sind und früher Programmpunkte der SPD waren, etwa nach einer Vermögenssteuer oder einem höheren Mindestlohn. Aber ich habe nicht den Eindruck, dass der Druck groß genug ist, um die Politik der SPD zu ändern.

Sind Sie von Andrea Nahles enttäuscht? Sie hat ihre Karriere ja in der SPD-Linken begonnen.

Ich reduziere meine Kritik nicht auf Frau Nahles. Sie hat leider die Karriere vieler Jungsozialisten gemacht – die Diagonalkarriere: von links unten nach rechts oben. Aber sie hat dafür im Gegensatz zu anderen immerhin einige Jahre gebraucht.

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