Forscher über Verschwörungstheorien: „An Gottes Stelle treten Verschwörer“

Verschwörungstheorien sind seit der Frühen Neuzeit beliebt – und nicht ungefährlich. Warum gibt es sie überhaupt? Michael Butter forscht seit Jahren.

Ein Radioteleskop

Wieso verheimlicht der Staat eigentlich, was er über UFOS weiß? Foto: Donald Giannatti via unsplash

Eine „internationale Finanzoligarchie“ plant den „großen Bevölkerungsaustausch“, Mondlandung und 11. September waren Inszenierungen der US-Regierung, mangels Friedensvertrag sind die Deutschen immer noch „Reichsbürger“: Michael Butter forscht seit Jahren über Verschwörungstheorien, die vor allem, aber nicht nur in rechten politischen Kreisen kursieren. Jetzt hat er ein Buch zu dem Thema vorgelegt: „Nichts ist, wie es scheint“.

taz am wochenende: Herr Butter, wie definieren Sie Verschwörungstheorien?

Michael Butter: Verschwörungstheorien beinhalten drei Charakteristika. Erstens: Nichts geschieht durch Zufall. Das heißt, es gibt angeblich eine im geheimen operierende Gruppe, die Verschwörer, die alles, was geschieht, geplant haben. Zweitens: Nichts ist, wie es scheint. Das heißt, man muss unter die Oberfläche schauen, um die wahren Verhältnisse zu erkennen. Tut man das, dann erkennt man als Drittes: Alles, oder fast alles ist miteinander verbunden. Die Einführung des Euro, Gender Mainstreaming und die Flüchtlingskrise erscheinen dann als Teil eines perfiden Gesamtplans.

Sind Verschwörungstheorien etwas historisch Neues?

Die ersten Verschwörungstheorien entstanden, soweit wir heute wissen, irgendwann zwischen Früher Neuzeit und Aufklärung. Denn erst da sind die notwendigen Bedingungen gegeben: ein Menschenbild, das Subjekten entsprechende Handlungsfähigkeit zuschreibt, eine lesende Öffentlichkeit, in der solche Theorien zirkulieren können, und der Buchdruck, der es erlaubt, die entsprechenden Texte zu verbreiten. Zunächst spielen in den Szenarien noch Gott und der Teufel eine große Rolle, aber ab dem 18. Jahrhundert finden wir die üblichen Verdächtigen, um die es auch in der Gegenwart noch oft geht, zum Beispiel den Geheimbund der Illuminaten oder die Freimaurer.

Hat die stärkere Verbreitung von Verschwörungstheorien mit dem Nachlassen religiöser Bindungen zu tun?

ist Professor für Amerikanistik an der Universität Tübingen und Mitinitiator des EU-Projekts Comparative Analysis of Conspiracy Theories, in dem ein interdisziplinäres Forschungsteam die Hintergründe und Gefahren von Verschwörungstheorien vergleicht. Sein Buch „Nichts ist, wie es scheint“ ist 2018 im Suhrkamp Verlag erschienen (271 S., 18 Euro).

Historiker begründen das so, mit der Säkularisierung. Einst glaubten die Menschen an eine göttliche Instanz, die alle Fäden in der Hand hält. Das fällt mit der Aufklärung zunehmend weg. Zugleich aber waren die Menschen noch nicht bereit, zu akzeptieren, dass komplexe Gesellschaften Dinge hervorbringen, die niemand so geplant hat. Irgendjemand muss das lenken, an die Stelle von Gott treten dann die Verschwörer.

Sie sind Amerikanist. Gibt es in den Vereinigten Staaten eine besondere Neigung zu Verschwörungstheorien?

Vor zehn Jahren hätte ich diese Frage noch mit eine klaren Ja beantwortet. Mittlerweile wissen wir, wie wichtig Verschwörungstheorien auch in der europäischen Geschichte waren und es immer noch sind. Fakt ist aber, dass in den USA deutlich mehr Menschen an so etwas glauben als in Deutschland. Neueren Umfrageergebnissen zufolge hängt dort jeder zweite Bürger mindestens einer Verschwörungstheorie an. Wir denken vielleicht sofort an die Anhänger von Donald Trump, aber das sind nicht die Einzigen.

Sie haben ein EU-Projekt zu dem Thema mit angestoßen, in dem über hundert Forscher aus 39 Ländern kooperieren. Wo liegen die Unterschiede innerhalb Europas?

In Mittel-, West- und Nordeuropa sind Verschwörungstheorien seit den 1950er Jahren stigmatisiert. Sie sind zwar weiterhin für viele attraktiv, aber sozial nicht akzeptiert. In Ost- und Teilen von Südeuropa ist das anders, dort verbreiten fast alle Politiker und große Teile der Medien ständig Verschwörungstheorien. Denken Sie nur an die ungarische Regierung unter Viktor Orbán, die behauptet, der US-Finanzinvestor George Soros wolle Millionen Migranten in Europa ansiedeln, um die „natio­nale und christliche Identität“ des Kontinents auszulöschen. Die Theo­rie vom Weltenlenker Soros knüpft ganz offen an alte antisemitische Hetzkampagnen an – der Angegriffene ist ja ein in Ungarn geborener Jude.

Das Internet gilt als eine Art Brandbeschleuniger für einfache Welterklärungen. Sind Verschwörungstheorien vor allem ein Netzphänomen?

Nein. Das Internet hat Verschwörungstheorien nur wieder sichtbarer gemacht und dadurch auch zu einer Zunahme der „Gläubigen“ geführt. Die ist aber nicht so rapide, wie es uns manchmal vorkommt. Verglichen mit der Zeit vor hundert oder zweihundert Jahren, glauben heute sogar eher weniger Menschen an Verschwörungstheorien. Deren Verbreitung reicht allerdings bis weit in die Mitte der Gesellschaft hinein.

Schaut man auf Netzeinträge etwa zum 11. September 2001, fällt auf, dass überwiegend Männer dazu posten. Sind diese besonders anfällig für abstruse Gedankenkonstrukte?

In der Gegenwart auf jeden Fall. Das liegt daran, dass Verschwörungstheorien einem erklären, warum die Dinge falsch laufen. Und die männliche Identität ist in den letzten Jahrzehnten deutlich heftiger erschüttert worden als die weibliche. Daher neigen momentan insbesondere diejenigen zu Verschwörungstheorien, die Verlust­ängste spüren und daher auch die populistischen Bewegungen der Gegenwart tragen: weiße Männer über 40. Das ist genau jene demografische Gruppe, die Trump ins Amt gebracht hat und bei Pegida mitmarschiert.

Führt verschwörungstheoretisches Denken zu Gewalt? Ein „Reichsbürger“, der staatliche Autoritäten nicht anerkennt, hat 2016 bei einer Hausdurchsuchung aus dem Hinterhalt einen Polizisten erschossen.

Das ist tragisch, aber man darf hier nicht vorschnell verallgemeinern. Viele Verschwörungstheoretiker sind harmlos. Aber wir reden halt häufiger über die, die es nicht sind. Generell sind Theorien, die sich gegen Schwache und Ausgegrenzte richten, gefährlicher als solche, die Eliten beschuldigen. Und natürlich sind alle rassistischen oder antisemitischen Theorien problematisch. Also: Solche Deutungen können zu Gewalt führen, tun dies aber nicht zwangsläufig.

Beeinflussen Verschwörungstheorien die Politik?

In Gesellschaften, in denen Verschwörungstheorien als legitimes Wissen gelten, tun sie das ganz massiv. Sowohl der US-amerikanische Unabhängigkeitskrieg als auch der spätere Bürgerkrieg wurden zu einem beträchtlichen Teil von solchen Theorien mitverursacht. Für die puritanischen Siedler zum Beispiel waren alle, die sich ihnen entgegenstellten, Teil eines teuflischen Komplotts; das galt für die Indianer genauso wie für die Quäker oder die französischen Katholiken in Kanada. US-Präsident Abraham Lincoln zeigte sich Mitte des 19. Jahrhunderts in einer berühmten Rede überzeugt, seine politischen Gegner wollten die Sklaverei nicht nur im Süden der USA beibehalten, sondern diese auf das ganze Land ausdehnen. In der US-amerikanischen Kultur galten Verschwörungstheorien noch bis nach dem Zweiten Weltkrieg als völlig legitim. Die Mehrzahl der US-Präsidenten glaubte daran, von Washington bis Eisenhower. Aber selbst bei uns, wo diese spätestens seit den Erfahrungen im Nationalsozialismus stigmatisiert sind, bleiben sie nicht ohne Effekt. Die Verschwörungstheorien, die unter vielen Pegida- oder AfD-Anhängern verbreitet sind, beeinflussen, wie diese Bewegungen Politik machen und somit indirekt auch den gesamtgesellschaft­lichen Diskurs.

Gibt es einen klaren Zusammenhang zwischen Verschwörungstheorien und rechtem Populismus?

Ja. Verschwörungstheorien und Populismus haben viele struk­turelle ­Gemeinsamkeiten. Beide vereinfachen das politische Feld durch Aufteilung in zwei Gruppen: Volk und Elite oder Opfer der Verschwörung und Verschwörer. Letztendlich liefern Verschwörungstheorien nur eine spezifische Erklärung für das Verhalten der Eliten, das der Populismus allgemeiner kritisiert. Die Eliten sind dann nicht nur abgehoben oder individuell korrupt, sondern gleich Teil eines Komplotts. Entsprechend können populistische Bewegungen Verschwörungstheoretiker wunderbar integrieren. Diese stimmen mit den Nichtverschwörungstheoretikern in fast allem überein.

Gibt es auch linke Verschwörungstheoretiker?

Nicht so ausgeprägt wie im rechten politischen Spektrum. Doch in kommunistischen Regimen wie der Sowjetunion und China wimmelt es im 20. Jahrhundert von Verschwörungs­theo­rien. Mal geht es um subversive Kräfte aus dem Aus- und Inland, mal um eine Verschwörung des Großkapitals. Oder diskutieren Sie mal hier im linksintellektuellen Tübingen auf Spielplätzen über die Notwendigkeit von Impfungen! Da schlägt einem ein völlig überzogenes Misstrauen gegen Ärzteschaft und ­Pharmaindustrie entgegen. Mit einer grünen Impfgegnerin zu sprechen kann genauso anstrengend sein, wie einem AfD-Anhänger ausreden zu wollen, Merkel werde direkt aus Washington gesteuert.

Dieser Text stammt aus der taz am wochenende. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder gleich im praktischen Wochenendabo. Und bei Facebook und Twitter.

Alternativen Fakten“ aus dubiosen Blogs oder Foren schenken manche mehr Glauben als den Recherchen seriöser Medien, die als „Lügenpresse“ beschimpft werden. Was kann man tun gegen Verschwörungstheorien?

Empirische Experimente zeigen: Wenn man überzeugte Ver­schwörungstheoretiker mit schlüssigen Gegenargumenten konfrontiert, halten sie noch fester an ihrem Gedankengebäude fest. Es ist schwer, an „Gläubige“ heranzukommen. Wenn man überhaupt diskutieren will, sollte man niedrigschwellig und eher emotional einsteigen. Oft geht es um Anerkennung, darum, überhaupt ernst genommen zu werden. Gleichzeitig muss man ansetzen bei den Zweiflern, die nicht vollständig von solchen Theo­rien überzeugt sind, und für eine gute Bildung sorgen: Wissen darüber, wie moderne Gesellschaften funktionieren, und Medienkompetenz sind das Allerwichtigste.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Wir würden Ihnen hier gerne einen externen Inhalt zeigen. Sie entscheiden, ob sie dieses Element auch sehen wollen.

Ich bin damit einverstanden, dass mir externe Inhalte angezeigt werden. Damit können personenbezogene Daten an Drittplattformen übermittelt werden. Mehr dazu in unserer Datenschutzerklärung.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.