Die sedierte Nation und der pure Funk

Elastisch, ätzend, lustig – mit dem Album „Medicaid Fraud Dogg“ gelingt George Clinton die Reanimation seines Bandprojekts Parliament

George Clinton in Aktion letztes Jahr in Oslo Foto: Tord Litleskare/Citypress24/picture alliance

Von Detlef Diederichsen

Neulich ein Interview mit Roger Daltrey gelesen: Zu gerne würde er ein neues The-Who-Album aufnehmen! Leider fällt seinem Kumpel, The-Who-Songschreiber Pete Townshend, kein zündendes Thema für ein Albumkonzept ein.

Wie das richtige Thema einen altgedienten Künstler zur unerwarteten Höchstleistung antreiben kann, zeigt „Medicaid Fraud Dogg“, das jetzt – digital only! – veröffentlichte neue Album von George Clinton. Es ist das erste seit 1980 unter dem Bandprojektnamen Parliament veröffentlichte Werk. Und dabei hatte Clinton bereits alles erreicht, was er zu erreichen als junger Bursche sich erträumt hatte.

Über 108 Minuten und 23 Tracks (vielleicht drei bis vier zu viel) setzt sich der Erfinder des P-Funk („P“ für „pure“) nun mit dem Themenkomplex Gesundheit, Drogen, Selbstoptimierung und pharmazeutische Industrie auseinander. Die Ernsthaftigkeit, mit der er das tut, mag damit zu tun haben, dass sich der 77-Jährige kürzlich einen Herzschrittmacher einsetzen lassen musste. In jedem Fall verblüfft es, wie klug und subtil Clinton das schwierige Thema umsetzt, das in den USA durch das immer größer werdende Problem der Abhängigkeit von Schmerzmitteln einerseits und die drohende Rücknahme der Obamacare-Gesundheitsreform andererseits besonders intensiv diskutiert wird.

Dabei geht es George Clinton weniger um Fälle des Missbrauchs von Medicaid (der US-Gesundheitsbeihilfe für Arme) als um das big picture: „Medicaid side effects / Might be worse than the things / You’re tryin’ to fix …“

Dieses Bild skizziert er, ohne zu sehr ins Detail zu gehen, also vorzugsweise mit mehrfach wiederholten mehrdeutigen Zweizeilern wie „Pain management / How much more can I take“, „Sober living sucks / One nation under sedation“, „The bigger the pill / The harder to swallow“ oder „I am your prescription / You can call me addiction“. Bald verlässt er aber die Wohnzimmer der „medicated creeps“, „medicated freaks“ und anderen normalen Amerikaner („Everybody’s high on something“) und landet in Fitnessstudios („Hump until you hiccup / Pump until the pussy poop“), bei sozialen Medien („My twitter finger is itchin’ / Like I’m on dope“) und schließlich bei der Mineralölindustrie („We’re frackin’ / The earth is crackin’“). Auseinandersetzung heißt hier also weniger Diskurs als Meditation, Schlüsselsätze werden wiederholt, freigestellt, plötzlich leicht abgewandelt, tauchen in anderen Zusammenhängen wieder auf – ein interessantes, avantgardistisches poetisches Verfahren.

„Medicaid Fraud Dogg“ erinnert an das legendäre Album „Funkentelechy Vs. the Placebo Syndrome“

Stellenweise erinnert „Medicaid Fraud Dogg“ an das legendäre Parliament-Album „Funkentelechy Vs. the Placebo Syndrome“ (1977), auf dem George Clinton den Funk als Universalrezept gegen Konsumismus predigt und von dem einige Hauptcharaktere wie Funkentelechy und Sir Nose auf „Medicaid Fraud Dogg“ auch wieder mitwirken. Das passt insofern, als Clinton zur Formulierung seines Anliegens wieder das Format der Funk-Jam-Operette gewählt hat, das er mit Parliament (und seinen anderen Funk-Band-Formaten wie Funkadelic, The Brides of Funkenstein oder Parlet) in den siebziger Jahren zur Serienreife entwickelte. Unterschiedliche Charaktere treten auf, Chöre kommentieren, es gibt tolle Call-and-response-Passagen. Das Ganze bleibt aber trotzdem so elastisch, dass sich die Stücke mitunter in längeren Synthie-Solos und endlosen Refrain-Wiederholungen verlieren. Nur mit seinem Pranksterhumor hält sich Clinton etwas zurück, die Sache scheint ernst zu sein.

Detaillierte Credits liefert der Download nicht. Clintons Sohn und langjähriger Kollaborationspartner Tracey Lewis soll dem Vernehmen nach beim Komponieren eine gewichtige Rolle gespielt haben, die P-Funk-Veteranen Fred Wesley, Greg Thomas und Bennie Cowan bilden zusammen mit dem James-Brown-Wegbegleiter Pee Wee Ellis die exzellent besetzte und zu Recht prominent gefeaturete Bläsersektion, der Löwenanteil der sonstigen Musiker sollen aber namenlose Nachwuchskräfte sein. Diese Kombination führt quasi zu einer Mischung aus dem echten P-Funk und seiner retrofizierten Neuinszenierung: Bei einigen Schlagzeug- und Synthesizer-Sounds fragt man sich, ob das Samples alter Siebziger-Originale sind oder nachempfundene Neueinspielungen. In jedem Fall profitiert das Album vom Fan-Enthusiasmus der jüngeren Bandmitglieder, die dem Originalsound womöglich zuerst in Gestalt von Samples auf Hip-Hop-Produktionen begegnet sind.

Zu schade, dass George Clinton im kommenden Jahr in Rente gehen will, denn man fragt sich, wann ein 77-jähriger Musiker zuletzt ein so relevantes Statement abgegeben hat. Wenn der Rolling Stone mal die 500 würdigsten Alterswerke auflistet, sollte „Medicaid Fraud Dogg“ definitiv in der Spitzengruppe dabei sein. Bis dahin wünscht man sich, dass auch hierzulande mal jemand zu diesem Thema eine Operette komponiert: Jens Spahn als Sir Nose („I am Sir Nose / I knows how it goes“)? Idealbesetzung!

Parliament: „Medicaid Fraud Dogg“ (C Kunspyruhzy Records; Download); live: 30. Juni „Couleur Cafe“, Brüssel