Kommentar Seenotrettung im Mittelmeer: Wegschauen ist erbärmlich

Nicht Hunderte, sondern Tausende haben gegen die Abschottung Europas und für die Seenotretter demonstriert. Das macht Mut.

Menschen halten vor dem Fernsehturm Rettungswesten in die Höhe

Werden die Rettungswesten nicht im Mittelmeer gebraucht? Schon – das ist ja das Problem Foto: dpa

Mehrere hundert Rettungswesten ragten am Samstag hoch über die Menge, die gegen das Sterben im Mittelmeer durch die deutsche Hauptstadt zog. Rettungswesten aus der Ausrüstung jener Schiffe, mit denen NGOs in eben diesem Meer Menschen vor dem Ertrinken retten wollen. Was machen diese Westen in Berlin – werden sie nicht dringend gebraucht?

Nein, werden sie nicht. Und das ist das Problem.

Ein Schiff, das im Hafen liegt, braucht keine Rettungswesten. Und genau da, auf dem Trockenen, liegen Schiffe wie die „Sea Watch 3“, die „Lifeline“, die „Seefuchs“ und die „Iuventa“ momentan – ausgebremst von den Behörden, teils kriminalisiert. Und gleichzeitig sterben Hunderte Menschen im Mittelmeer.

Schon lange wird rund um geflüchtete Menschen und Migration auf einer Ebene diskutiert, die mit der Realität kaum noch Berührungspunkte hat. Es werden Horrorszenarien gemalt, die jeglicher Grundlage entbehren; etwa, wenn es um die prognostizierten Flüchtlingszahlen geht. Wie weit Diskussion und Realität sich auseinanderbewegt haben, das wird dieser Tage aber mit einer Brutalität deutlich, die sich einfach nicht mehr ignorieren lässt.

Die „Festung Europa“ und das Sterben im Mittelmeer sind nicht neu. Doch nun werden die Mauern dieser Festung verstärkt, indem selbst die ohnehin schon zivilen Organisationen überlassene Seenotrettung verhindert wird.

Schaut man sich die Großdemonstrationen der vergangenen Jahre an, richteten diese sich gegen: TTIP, hohe Mieten, die AfD. Der Protest gegen ein todbringendes Grenzregime war nicht dabei. Es brauchte offenbar die aktuelle Extremsituation, um am Samstag Tausende Menschen auf die Straße zu bringen.

Grafik: taz/svift.xyz

Denn während in Europa Abschottung praktiziert wird, um einen nach rechts gerückten Diskurs zu bedienen, während abstrakt über die „Begrenzung von Migration“ gesprochen wird und man sich streitet, ob es nun „Transit-“ oder „Transferzentren“ heißen soll, während Schiffe nicht auslaufen dürfen, weil sie nicht richtig registriert sein sollen, steigt die Zahl der Toten.

629 Menschen ertranken der Internationalen Organisation für Migration zufolge allein im Juni 2018. Das sind ungefähr so viele, wie in den ersten fünf Monaten des Jahres zusammen. Und etwa 13-mal so viele wie im Vormonat Mai.

700 Demonstrant*innen waren für den Samstag angemeldet. Gekommen sind viele Tausend. Das macht Mut. Bleibt zu hoffen, dass diese Menschen über den Samstag hinaus ihre Stimme erheben und eine andere Politik einfordern. Denn wegzusehen, während Menschen sterben, ist erbärmlich. Hinzusehen und sie trotzdem sterben zu lassen aber ist schlicht grausam.

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leitet das Inlandsressort der taz. Davor war sie dort seit Oktober 2018 Redakteurin für Migration und Integration und davor von 2016-17 Volontärin der taz Panter Stiftung. Für ihre Recherche und Berichterstattung zum sogenannten Werbeverbot für Abtreibungen, Paragraf 219a StGB, wurde sie mehrfach ausgezeichnet. Im März 2022 erschien von Gesine Agena, Patricia Hecht und ihr das Buch "Selbstbestimmt. Für reproduktive Rechte" im Verlag Klaus Wagenbach.

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