Südchinesische Kampfkunsttradition: Kung Fu ist mehr als Bruce Lee

Er machte den Kung Fu weltberühmt: Vor 45 Jahren starb Filmikone Bruce Lee. Was bedeutet Kung Fu abseits der gängigen Stereotype aus Hollywood?

Bruce Lee als Wachsfigur in Kampfkunstpose

Bruce Lee, hier als Wachsfigur bei Madame Tussauds, wirkte in mehr als 20 Kung-Fu-Filmen mit Foto: dpa

Vor genau 45 Jahren starb Bruce Lee – Schauspieler, Regisseur und legendäre Ikone des Kung Fu. Weltberühmt wurde Lee 1967 mit dem US-Fernsehfilm „The Green Hornet“. Später machten ihn Hollywoodstars wie Steve McQueen, James Coburn und Roman Polanski zu ihrem persönlichen Kung-Fu-Trainer. Lee wirkte in mehr als 20 Kung-Fu-Filmen mit. So wird Kung Fu im Westen immer und ausschließlich mit Bruce Lee in Verbindung gebracht. Ja, Lee kam aus Hongkong und durch seine US-amerikanischen Filmproduktionen haben wir sehr viel über Kung Fu gelernt. Aber: Kung Fu ist nicht nur Bruce Lee.

Und ja, Kung Fu ist sehr beliebt in Hongkong, China und Asien generell. Aber: Nicht alle Leute aus Hongkong sind tatsächlich mit Kung Fu vertraut. Fragen Sie Ihre asiatischen Freunde bitte nicht sofort: „Kannst du Kung Fu? Bringst du mir das bei?“ Nicht alle Bürger von Hongkong können Ihnen Kung Fu zeigen und nur wenige wissen, wie man den Kung Fu wirklich tanzt. Genau wie Sie, kennen die Leute aus Hongkong die Stereotypen der Filmwelt am besten. Sie lieben Bruce Lee – und Kung Fu in all seinen Spielarten. Und davon gibt es viele.

Die Geschichte von Kung Fu reicht bis in die Zeit der Sklavengesellschaft zurück (ab 11. Jahrhundert v. Chr.). Als ausgefeiltes System der Kampfkunst trat Kung Fu erst in der Xia Dynastie (ca. 2200 v. Chr. bis ca. 1800 v. Chr.) hervor. Im 19. Jahrhundert wurde das südchinesische Guangdong zur berühmtesten Stadt des Kung Fu, hauptsächlich aufgrund ihres wirtschaftlichen Wachstums und des ersten sino-britischen Opiumkrieges von 1840.

Während der Zeit der chinesischen Republik (1912–1949) wanderten dann viele Kung-Fu-Meister nach Hongkong, Macau, Singapur, Malaysia und Vietnam aus. Persönliche und politische Gründe trieben Kung Fu also in weitere Teile Asiens.

Geistige Übungen

Kung Fu konzentriert sich aber nicht nur auf die Kampfkunst sondern auch auf innere, geistige Übungen, die zu einer friedlicheren und demütigeren Lebenshaltung führen können. Die meisten Kung-Fu-Meister behalten Teile ihres Geheimwissens für sich, sodass selbst ihre Studenten nur 50 bis 80 Prozent davon lernen. Das hat damit zu tun, dass Chinesen dazu neigen, zu denken, jeder brauche „ein As im Ärmel“ für den Notfall, um sich selbst zu schützen. Dies trug natürlich im Wesentlichen zu dem Image des Kung Fu als einer Schule der Mysterien bei.

Kung Fu zelebriert auch eigene Tänze, zum Beispiel den Löwen- oder den Drachentanz. Wer diese Tänze beherrschen will, muss allerdings zuallererst die Grundlagen des Kung Fu lernen. Seit der Qing Dynastie (1644–1911), in der diese Tänze berühmt wurden, glaubt man, sie würden Glück bringen und das Böse bannen. So werden sie heute nicht nur zu chinesischen Neujahrsfeiern aufgeführt, sondern auch bei Hochzeiten, Restauranteröffnungen oder Regierungsfeiern. Für junge Leute sind die Tänze zu einer Art Sport geworden, aber auch zu einem Zugang zur traditionellen chinesischen Kultur.

King P.W. Kong, Vorsitzender des Hongkong Kampfkunst- und Tanzverbandes, betont, dass „Drache und Löwe“ Harmonie symbolisieren. Sie haben keinerlei Ähnlichkeit mit Gesellschaftstänzen, da es großer körperlicher Anstrengung bedarf, auf den hohen Stelzen festen Stand zu behalten und gleichzeitig die große Tierfigur elegant über den Boden zu manövrieren. In diesen Tänzen geht es immer um Teamwork.

Der spirit in den Tanzgruppen ähnelt einer Gesellschaft im Kleinen. „Wenn 20 Leute den Drachen zusammen tanzen“, sagt King P. W. Kong, „dann müssen die Ensemblemitglieder tolerant und rücksichtsvoll agieren. Tun sie das nicht, werden sie den Tanz des Drachen niemals tanzen können.“

Gefährliche Kreatur

Das Gleiche gilt für den Löwentanz. Die Figur des Löwen muss geschmeidig mit der Musik verschmelzen – vom Kopf bis zum Schwanz. Die Tänzer brauchen Vertrauen und die gegenseitige Unterstützung im Ensemble.

King P.W. Kong kennt viele Schüler, die den Löwentanz erlernen wollten, aber am Anfang auf Widerstand bei ihren Eltern trafen, weil diese dachten, dass Drachen- und Löwentanz nur hartes Kampftraining bedeuten und man dort nur lerne, wie man am schnellsten ein krimineller Kerl werden kann.

King dagegen ist überzeugt, dass diese Tanzerziehung höchst wichtig für die geistige Entwicklung der Jugendlichen ist und der Meister nicht nur unterrichtet, wie Drachen und Löwen getanzt werden, sondern auch „wie eine Gemeinschaft funktionieren kann“. Alle müssen sich gegenseitig respektieren, besonders dann, wenn der Löwe auf andere Löwen trifft, und ein ganz besonderer Tanz beginnt – um einen Kampf zu vermeiden.

Der Kirin, auch „Goldener Löwentanz“ oder „Grüner Löwentanz“ genannt, bringt in jedem Fall eine sehr gefährliche Kreatur auf die Bühne, erzählt Lui Hok Keung, Präsident der International Golden Lion & Unicorn Performing Arts Association. In alten Zeiten wurde der Kirin gerufen, um Überschwemmungen zu stoppen: Die Tänzer formierten sich zu Tanzfiguren, die Dämme und Brunnen öffneten, um dem Wasser einen Ausweg zu bieten.

Geheimnisse des Tanzes

Heute wird der Kirin gerufen, um böse Geister zu zerstören. Wenn sich in einer Familie böse Geister eingenistet haben, dann bitten die Menschen um einen Auftritt des Goldenen Löwen und konfrontieren die destruktiven Geister mit dem atemberaubenden Löwenkostüm.

Lui nennt den Kopf des Goldenen Löwen „Beidou Sieben Sterne“. Sieben Kupfermünzen repräsentieren sieben Sterne, Yin und Yang. Die Schätze der Dämonen werden in ihrer Verkleidung bewundert und gefürchtet: Die Augenbrauen des Löwen sind gemalte Flammen, seine glutvollen Augen, seine sensiblen Ohren und die delikate Nase formen einen majestätischen Kopf.

Wenn eine Familie böse Geister plagen, bittet man um einen Tanzauftritt des Goldenen Löwen

Die fünf Farben des Löwenkostüms symbolisieren: Gold, Holz, Wasser, Feuer und Erde. Lui ergänzt, dass der Goldene Löwe in der Vergangenheit selten aufgeführt wurde, weil die Kung-Fu-Meister die Geheimnisse dieses Tanzes besonders streng hüteten. Nach Hongkong kam der Goldene Löwe erst in den Siebzigerjahren.

Lui Hok Keung betont die Magie der Eröffnungszeremonie für den Goldenen Löwen: Der Tag, die Uhrzeit, der Ort werden sorgfältig ausgewählt, eine genaue Liste der Gegebenheiten, denen Tribut gezollt werden muss, wird erstellt, und die Tänzer müssen einen Gedenkgottesdienst abhalten. Sie benutzen Zinnoberstifte, um die Gesichtszüge des Goldenen Löwen hervorzuheben, seine Augen und Füße optisch zu vergrößern – und dann trabt der Goldene Löwe zu einem großen Baum und beißt grüne Blätter ab, die den Geist des Guten und des Bösen verkörpern.

Lui nennt die Kung-Fu-Tänzer des „Hung Kuen“, einer südchinesische Kampfkunst, die zu den Shaolin-Formen gehört, „weich, lebendig, locker und schwer zugleich“. Sie beherrschen die acht Charaktere der Goldenen Löwentänze: Sobald der Tanz beginnt, hängen sich die acht Spieler an den Hals des Löwen und bewegen so die ganze goldene Löwenfigur – sie drehen sich, sinken zu Boden, taumeln wieder nach oben, bewegen sich wie Pferde in Sprüngen, die die „Prüfungen und Abenteuer“ des Goldenen Löwens symbolisieren, „seine Hoffnungen und Überraschungen“, seinen Kampf gegen die Tyrannen und anderes Unglück, das die Menschen ereilen kann.

Übersetzung: Gaby Sohl

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