Reaktionen auf NSU-Prozess im Ausland: „Rechtsextreme Untergrundkultur“

Die türkischen, französischen und britischen Medien kritisieren den NSU-Prozess und das Urteil. Manche Reaktionen sind boulevardesk, andere gehen in die Tiefe.

Menschen auf einer Demonstration nach dem Urteil im NSU-Prozess. Sie halten Plakate mit den Bildern der Getöteten in die Höhe

Nach dem Urteil im NSU-Prozess gab es unter anderem in München Demonstrationen Foto: dpa

ISTANBUL/PARIS/DUBLIN taz | „Das Urteil im NSU-Prozess bringt keine Gerechtigkeit“ titelte am Mittwoch die Website der englischsprachigen regierungsnahen Zeitung Daily Sabah. Damit fasst das Blatt die Kritik der türkischen Regierung zusammen, die das Außenministerium verbreitete. Darin heißt es, das Gericht habe es versäumt, dass volle Ausmaß der Mordserie zu untersuchen und die Hintergründe aufzuklären. Insbesondere die Verwicklung des „tiefen Staates“ – in der Türkei eine Beschreibung für eine Mischung von Geheimdiensten, Bürokraten und Nationalisten, die im Hintergrund die Fäden ziehen – sei nicht berücksichtigt worden.

Gemeint ist die mögliche Verwicklung des Verfassungsschutzes in die Mordserie. Damit blieben die wirklichen Kriminellen weiterhin im Dunkeln. Das Urteil werde deshalb dem Gerechtigkeitsempfinden weder gerecht noch liefere es der Öffentlichkeit Vertrauen in staatliches Handeln.

Das Außenministerium erinnert noch einmal daran, dass die Familien der Opfer schon während der Ermittlungen diskriminiert wurden und diese Diskriminierung bis heute nicht überwunden hätten. Die türkische Regierung kündigte an, dass sie weiterhin beobachten wird, ob die deutschen Behörden die Ermittlungen in Sachen NSU fortsetzen werden, um mögliche weitere Mittäter zu ermitteln.

Weiterhin fordert das türkische Außenministerium, wie bereits in früheren Stellungnahmen, angesichts des wachsenden Rassismus und zunehmender Fremdenfeindlichkeit in Deutschland einen verantwortlichen Umgang von Politikern und Medien mit dem Thema statt populistische Reflexe zu bedienen. Türkische Politiker und Medien haben den gesamten NSU-Komplex über Jahre immer wieder kommentiert und Versäumnisse in der Aufklärung bemängelt. Außerdem diente der deutsche Umgang mit der Mordserie des NSU der türkischen Regierung auch immer wieder als Gegenargument, wenn die deutsche Regierung oder die deutsche Öffentlichkeit Menschenrechtsverletzungen in der Türkei kritisierten.

Frankreich: „Bitterer Nachgeschmack“

Die meisten französischen Medien haben das Urteil im NSU-Prozess zwar gemeldet. Nur wenige Zeitungen und Online-Dienste haben dem Thema aber eigene Berichte gewidmet. Die Tageszeitung Libération veröffentlichte den Bericht einer Korrespondentin, die schreibt: „Am Ende hat dieser NSU-Prozess mehr Fragen aufgeworfen, als Antworten zu liefern bezüglich der Morde gegen die türkische Gemeinschaft in Deutschland. Er belegt die Furcht vor gewaltsamen und heimlichen Neonazi-Kreisen mit internationalen Verbindungen, die weit über das Trio Zschäpe-Mundlos-Böhnhardt hinaus reichen. Die fünf Jahre Prozess haben nur eines ermöglicht: Die Rehabilitierung der grundlos des Mordes an Angehörigen verdächtigten Familie.“ Auch Le Figaro ist der Ansicht, nach diesem Prozess, der „einen bitteren Geschmack des Unfertigen hinterlässt“, bleibe vieles noch unklar.

Wenn auch nicht alle Zeitungen eigene Korrespondenten-Berichte publizieren – so reicht das Interesse an dem Prozess doch bis in die Karibik, wo beispielsweise das Nachrichtenportal „martinique.fr“ ausführlich über das Urteil berichtet hat. Der gemeinsame Online-Dienst der öffentlichen Rundfunk- und Fernsehsender „francetvinfo.fr“ unterstreicht, dass diese für Deutschland schockierende Affäre „ein grausames Licht auf die Mängel und Unterlassungen der Inlandsnachrichtendienste geworfen hat und die unterschätzte Gefahr dieser rechtsextremen Netzwerke in Deutschland verdeutlicht“. Es sei auch „peinlich“ für die Bundesregierung, dass „diese mutmaßlichen Mörder während so langer Jahre völlig unbehelligt agieren konnten“.

Großbritannien und Irland: „Bonnie und Clyde und Clyde“

Auf die britischen Boulevardblätter ist Verlass. „Nazi-Braut als Teil einer Bande, die ausländische Opfer in Deutschland abschlachtete, SCHULDIG des Mordes“, titelte der Mirror. Die Sun schrieb in großen Buchstaben über „Hitlers Braut“. Der Independent, der nur noch online erscheint, wunderte sich, dass Beate Zschäpe eher wie eine „adrette Fachkraft als wie ein Nazi-Monster“ aussehe.

Lediglich der Guardian geht kritischer mit dem Prozess und vor allem mit der Berichterstattung in den deutschen Medien um. „Statt zu untersuchen, warum die rechtsextremen Mörder so lange unentdeckt blieben“, heißt es, „berichteten die meisten deutschen Medien reißerisch über den NSU und insistierten, dass er nur aus drei Personen bestand, allen voran der Spiegel, der mit einer Geschichte über die ‚eiskalte Präzision‘ der ‚Braunen Armee-Fraktion‘ aufmachte.“

Für die Medien seien es Bonnie und Clyde und Clyde gewesen – mit schlüpfrigen Anspielungen auf eine Ménage-à-trois, schreibt der Guardian. Die Bedeutung des Gerichtsverfahrens sei aber viel größer als das, was Zschäpe über die Mordserie wusste oder nicht. Deutschlands Selbstverständnis habe vor Gericht gestanden: „Was die Staatsanwaltschaft herausgefunden hat, deutet darauf hin, dass Deutschland – eine Nation, die darauf stolz ist, die dunklen Winkel seiner Vergangenheit gewissenhaft konfrontiert zu haben – eine blühende rechtsextreme Untergrundkultur unangetastet gelassen hat.“

Die AfD sei nur das neueste Symptom für eine weit verbreitete Feindseligkeit gegen den liberalen Nachkriegskonsens. „Dunkle Strömungen der Unzufriedenheit werden im Internet öffentlich zur Schau gestellt – und an Zeitungskiosken sowie im Fernsehen, wo rechte Argumente zunehmend Gehör finden“, heißt es in dem Blatt.

Derek Scally schreibt in der Irish Times, dass Deutschland das System überdenken müsse, wie Verbrechen bekämpft werden. Man müsste vielleicht „die 70 Jahre alten föderalen Strukturen in Deutschland verändern, da sie die Macht zwischen der Bundesregierung in Berlin und den 16 Bundesländern aufteilen“.

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Rechtsextreme Terroranschläge haben Tradition in Deutschland.

■ Beim Oktoberfest-Attentat im Jahr 1980 starben 13 Menschen in München.

■ Der Nationalsozialistische Untergrund (NSU) um Beate Zschäpe verübte bis 2011 zehn Morde und drei Anschläge.

■ Als Rechtsterroristen verurteilt wurde zuletzt die sächsische „Gruppe Freital“, ebenso die „Oldschool Society“ und die Gruppe „Revolution Chemnitz“.

■ Gegen den Bundeswehrsoldaten Franco A. wird wegen Rechtsterrorverdachts ermittelt.

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■ In die Synagoge in Halle versuchte Stephan B. am 9. Oktober 2019 zu stürmen und ermordete zwei Menschen.

■ In Hanau erschoss ein Mann am 19. Februar 2020 in Shisha-Bars neun Menschen und dann seine Mutter und sich selbst. Er hinterließ rassistische Pamphlete.

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