Rechtspopulismus in Schweden: Der Dammbruch

Vor der Parlamentswahl bestimmen Themen der Rechtspopulisten die öffentliche Debatte. Die können sich so positiv besetzten Fragen widmen.

Eine Illustration in Anlehnung an Ikea

Was entscheidet darüber, wer ein „echter“ Schwede ist? Die Frage wurde erst durch die Rechtspopulisten salonfähig Illustration: Eleonore Roedel

Am 9. September wird in Schweden ein neues Parlament gewählt, und weitgehend unbemerkt von der Außenwelt bahnt sich hier ein radikaler Wechsel in der politischen Landschaft an. Nach einer Legislatur­periode mit einer rot-grünen Minderheitsregierung sehen Umfragen die rechtspopulistischen Sverigedemokraterna (Schwedendemokraten, kurz SD) bei über 20 Prozent, nahe an den Sozialdemokraten und deutlich über den Liberal-Konservativen (Moderaterna, M).

Mitentscheidend für ihren Erfolg sind Fehler, die auch hierzulande im Umgang mit Rechtspopulisten gerne diskutiert werden: die Themen der Rechten besetzen, die Sorgen der Menschen ernst nehmen. Dabei wird die Ethnisierung gesellschaftlicher Konflikte prominent diskutierbar gemacht. Das Resultat: Die Rechtspopulisten haben Rassismus schon nicht mehr nötig.

Anfang Juli trafen sich wie jedes Jahr schwedische Parteien, Medien und NGOs auf Gotland zum größten öffentlichen politischen Event, der Almedalswoche. In diesem Jahr dominierte die Neonazigruppe Nordiska motståndsrörelsen (Nordische Widerstandsbewegung, NMR), die nach angemeldeten Kundgebungen auf der Insel die ganze Woche über Menschen bedrohte, terrorisierte, filmte und schlug, ohne dass die Polizei eingegriffen hätte.

Währenddessen veröffentlichte der Kanal SVT den Artikel „Faktencheck: NMR verbreitet Falsches über Zyklon B – wurde doch benutzt, um Menschen zu ermorden“. Ein diskursiver Dammbruch: Holocaustleugnung sollte hier mit den besten Absichten widerlegt werden, wurde aber tatsächlich erstmals auch in den öffentlich-rechtlichen Medien breit thematisiert und überhaupt erst diskutierbar gemacht.

Eine rechte Partei als Stichwortgeber

Die Schwedendemokraten haben, wie viele Rechtspopulisten, ein ambivalentes und kompliziertes Verhältnis zur extremen Rechten. Die Zeiten, als sie selbst den Kampf um die Straße führten, sind vorbei, andererseits wurden Personen mit neonazistischen Verbindungen keineswegs so konsequent aus Partei und Wahllisten entfernt, wie die Parteispitze das gern behauptet.

Der SD-Parteivorsitzende Jimmie Åkesson sprach in seiner Wahlkampfrede in Almedalen nicht über Migration, nicht über Asylpolitik und Grenzen, er forderte nicht, Seenotrettung im Mittelmeer lieber sein zu lassen. Åkesson sprach stattdessen über Fußball, über Nationalismus als eine positive, aufbauende Kraft und darüber, dass die Sozialdemokraten das „Volksheim“ zerstört hätten. Gleichzeitig widmeten sich alle anderen Parteien den Themen Migration und innerer Sicherheit sowie der Frage, wie mit den Schwedendemokraten nach ihrem zu erwartenden starken Wahlergebnis künftig umzugehen sei.

Der diskursive Dammbruch, der diese Verschiebungen möglich gemacht hat, ist schon länger vollzogen: Scheinbar sollten die Sorgen der Menschen vor den Folgen von Migration ernst genommen werden – tatsächlich aber wurde eine rechte Partei zum Stichwortgeber der Migrationspolitik, und ihre zentralen Forderungen wurden nicht nur gesellschaftlich salonfähig, sondern auch politisch umgesetzt.

Anderswo in Europa fragt man sich, ob Menschen vor dem Ertrinken gerettet werden sollen oder eher nicht – ebenfalls ein Dammbruch. Auch um Wahlerfolgen rechter Parteien vorzubeugen, werden Grenzen geschlossen und militärisch gesichert, Geflüchtete werden nicht als Menschen, sondern als Manövriermasse bezeichnet.

„Der Untergang“

Letzten Endes wissen die meisten, dass die immer neuen Verschärfungen der Migrationspolitik, die Zehntausende Tote fordern, nicht geeignet sind, rea­le Missstände in Europa zu verändern, Armut zu bekämpfen oder das Wohlfahrtsniveau der 1960er Jahre wieder einzuführen. Vor allem helfen sie den europäischen Ex-Volksparteien nicht, Wähler*innen von rechtspopulistischen und nationalistischen Parteien abzuwerben.

Entsprechend wurde es Schwedens rot-grüner Regierung auch nicht gedankt, dass sie die Grenzen bereits im Dezember 2015 schloss und bis heute nur den absoluten europäischen Mindeststandard in Asylverfahren einhält (Grenzkontrollen, nur temporäre Aufenthaltstitel auch für anerkannte Geflüchtete, Familiennachzug nur bei Möglichkeit zur Selbstversorgung). Dass minderjährige Unbegleitete von dieser Regierung zu medizinischen Altersbestimmungen gezwungen und dann nach Afghanistan abgeschoben werden, lenkt die früher sozialdemokratische Arbeiter*innenklasse auch nicht weg von den Schwedendemokraten.

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Auch dank solcher Maßnahmen müssen die Rechtspopulisten gar nicht mehr über Asylpolitik sprechen – sie sprechen von innerer Sicherheit, Renten, nationaler Identität und Loyalität und vor allem davon, dass alle anderen Parteien erstens die SD kopieren (was durchaus stimmt) und zweitens das Land in den Untergang treiben.

„Der Untergang“ ist eine Mischung aus faktischen Schwierigkeiten, die der schwedische Wohlfahrtsstaat nach jahrzehntelangen Privatisierungen zu bewältigen hat, und einem Narrativ der extremen und neuen Rechten, in dem das Land kurz vor dem Kollaps steht. Das Gegenbild ist eine Verklärung des „Volksheims“ zu einer homogenen, sicheren, stabilen Gesellschaft, die von weitblickenden Politikern zum guten Leben hingelenkt wird.

Die Anderen nehmen den Rechten die Arbeit ab

Auch wenn diese Vision der Vergangenheit leicht entzaubert werden kann, gibt es in der Gegenwart Aspekte, die als naher Kollaps interpretiert werden können. Einer sind die langen Wartezeiten im Gesundheitssystem vor allem in den ländlichen Regionen und die sehr unterschiedlichen Lebens- und Versorgungsrealitäten in den reichen Innenstädten und überall sonst im Land. Ein anderer ist die Situation in den vernachlässigten Vororten der großen Städte, in denen extreme Segregation herrscht und Schießereien zwischen Gangmitgliedern und Ausschreitungen häufig sind, zuletzt mit etwa hundert brennenden Autos in und um Göteborg.

Hier fordern Forscher*innen seit Jahren ein grundlegendes Umdenken in der Wohnungs- und Sozialpolitik – SD bieten stattdessen ein Paket zur inneren Sicherheit an, in dem mehr Polizist*innen mit mehr Befugnissen, mehr Waffen, höheren Löhnen und mehr Kameraüberwachung vor allem Jagd auf junge Straftäter machen, die dann auf ein verschärftes Jugendstrafrecht treffen und in ausgebauten Haftanstalten landen.

Während Donald Trump vor anderthalb Jahren mit seiner hingeworfenen Andeutung, was „last night in Sweden“ passiert sei, noch lächerlich wirkte, weil das Narrativ der Rechten nicht verbreitet genug war, um Resonanz zu haben, teilen heute immer mehr Schwed*innen die Sorge vor Kriminalität, Drogengangs, Terrorismus und sexualisierter Gewalt im öffentlichen Raum. Die Ethnisierung dieser Konfliktfelder und rassistische Zuschreibungen müssen von den Rechtspopulisten selbst kaum mehr ausbuchstabiert werden – diese Arbeit haben andere erledigt, die die Problembeschreibung der SD übernommen haben.

Drei Wochen vor der Wahl brachte das wichtigste TV-Journal des investigativen Journalismus, „Uppdrag granskning“, eine Sendung mit der zentralen Information, dass 58 Prozent der verurteilten Sexualstraftäter aus dem Ausland stammen, und verortete das Problem in einer bestimmten Kultur – nicht der auch hierzulande wohlbekannten und verbreiteten „rape culture“, sondern einer pauschal nichtwestlichen, von Afghanistan bis Marokko reichenden Kultur. Damit wurde das zentrale Mobilisierungsmoment der Rechten verankert: dass der Islam die größte Bedrohung für uns westliche Frauen und unsere Befreiung darstelle – nicht etwa das Patriarchat, toxische Männlichkeiten und der Antifeminismus, die zentrale Errungenschaften der feministischen Bewegung zurücknehmen wollen.

Neudefinition der „Schweden“

Die monokausale Betrachtung von Sexualstraftaten ebenso wie die Ausschreitungen in den segregierten Vororten dominieren die letzten Wochen des Wahlkampfes. Während auch die Sozialdemokratie über mehr Polizei und ein verschärftes Strafrecht nachdenkt, während M die Abschiebung von Sexualstraftätern fordern, verknüpfen SD die Frage der inneren Sicherheit mit der nach Integration und Zugehörigkeit – konkret danach, wer schwedisch sein darf und soll.

Ihre Neudefinition der „Schweden“ läuft auf eine völkische Konstruktion mit einer einheitlichen Sprache, Kultur und Identität hinaus, aus der etwa schwedische Juden und Sámi als nationale Minderheiten herausfallen. Damit fordern SD die Trennung von Staatsbürgerschaft und nationaler Zugehörigkeit, wobei Letzterer größere Bedeutung für den Zugang zu Sozialleistungen und demokratischen Rechten eingeräumt werden sollen.

Rein rassistisch ist die Idee nicht: Loyalität und Bekenntnis zur heimischen Kultur sollen einbürgerungsfähig machen. Extrem rechte Identitätspolitik, die ein ganzes Land zu einer Debatte über „schwedische Werte“ gebracht hat.

Jimmie Åkesson trägt auf Wahlplakaten einen pastellblauen Pullover, er tritt gemeinsam mit Yasmine Eriksson auf, einer jungen Frau mit Migrationshintergrund. Darunter steht nicht „Seenotrettung ist Menschenhandel“ oder „Schützt unsere Frauen“ oder „Wir bestimmen, wer schwedisch ist“, sondern nur „SD2018“.

Die diskursiven und faktischen Dammbrüche führen nicht dazu, dass Menschen nun doch einsehen, dass der Holocaust stattgefunden hat. Oder dass soziale Gerechtigkeit in Europa nicht dadurch hergestellt werden wird, dass wir Geflüchtete ertrinken lassen. Oder dass Ethnizität wohl doch nicht der einzige Grund für sexualisierte Gewalt ist. Die vorauseilenden und umfassenden Antworten auf das Niedergangsnarrativ der Rechten geben diesen die Möglichkeit, sich anderen, positiver besetzten Fragen als dem eigenen Rassismus zu widmen.

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ist Professorin für Nordische Geschichte an der Universität Greifswald und leitet ein Forschungsprojekt über Antisemitismus in Skandinavien an der Universität Göteborg.

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