Gerichtsurteil zu Homosexualität in Indien: Das Ende der Angst

Das Oberste Gericht in Indien legalisiert nach über hundert Jahren gleichgeschlechtliche Handlungen. Es ist ein bahnbrechendes Urteil.

Vor einem Gebäude wird von mehreren Personen eine riesige Regenbogenfahne ausgerollt

LGBT-AktivistInnen in Bangalore feiern das Gerichtsurteil zur Entkriminalisierung der Homosexualität Foto: ap

DELHI taz Indiens Oberstes Gericht hat in einem bahnbrechenden Urteil den aus der britischen Kolonialzeit stammenden Paragrafen 377 des Strafgesetzbuches abgeschafft, der „Sexualverkehr gegen die Ordnung der Natur“ unter Strafe stellte. Der Paragraf sei „irrational, nicht zu verteidigen und offensichtlich willkürlich“, begründete der Oberste Richter Dipak Mishra die Entscheidung.

Damit beendet das Gericht einen jahrzehntelangen Kampf für LGBTI-Rechte in Indien, der schon mehrfach zu unterschiedlichen Gerichtsurteilen geführt hatte. Bereits 2009 hatte das Höchste Gericht in Delhi geurteilt, dass ein Verbot von „einverständlichem Sex unter Homosexuellen“ gegen die Grundrechte verstoße. Dieses Urteil jedoch wurde vom Obersten Gericht 2013 mit der Begründung rückgängig gemacht, dass diese Frage nicht von Gerichten, sondern vom Parlament entschieden werden müsse.

„Dieses Urteil war falsch, illegal und hat Grundsätze der Verfassung falsch interpretiert“, sagt Colin Gonsalves, einer der Anwälte, die mit ihrer Petition nun erfolgreich waren. Den Aktivisten kam zugute, dass das Oberste Gericht in einem anderen bahnbrechenden Urteil zum Thema Datenschutz im Internet im letzten Jahr Bürgerinnen und Bürgern ein „Recht auf Privatheit“ zugestanden hat. Dies wurde nun erfolgreich auch für das reklamiert, was im Schlafzimmer oder andernorts stattfindet. Sexualität, so das Urteil, sei „ein essentieller Bestandteil der Privatheit“.

„Das Urteil ist enorm wichtig“, sagt Meenakshi Ganguly, Südasien-Direktorin von Human Rights Watch. „Die permanente Angst vor dem Paragrafen 377, die wir alle hatten, wird für die nächste Generation nicht mehr da sein“, sagt Yashwinder Singh von der Organisation Humsafar Trust, die sich in Mumbai für LGBTI-Rechte stark macht.

Viktorianische Sexualmoral

Dabei war die Situation von Homosexuellen in Indien zu keiner Zeit mit der Verfolgung vergleichbar, die etwa in Westdeutschland unter dem „Schwulenparagrafen 175“ stattfand. Bis zu dessen Abschaffung 1994 waren dort rund 50.000 vor allem Schwule zu Gefängnisstrafen von mehreren Jahren verurteilt worden. In Indien hingegen saß noch nie jemand wegen seiner sexuellen Orientierung im Knast.

„Ich bin schwul und wurde in meinem ganzen Leben noch nie diskriminiert. Es gibt keine aktive Homophobie in Indien“, sagt Abhijit Iyer-Mitra. Der 42-Jährige aus Chennai, der in Delhi für das Institute of Peace and Conflict Studies (IPCS) arbeitet, verweist darauf, dass die einzigen Verurteilungen auf Basis des Paragrafen 377 seit 1870 wegen ­Vergewaltigungen verhängt wurden. „Bisher war dies die einzig rechtliche Möglichkeit, die ein Mann geltend machen konnte, wenn er vergewaltigt wurde“, so Iyer-Mitra. Alle anderen diesbezüglichen Gesetze galten nur für Frauen.

„Indien war historisch immer liberal, wenn es um sexuelle Unterschiede ging“, sagt auch Shashi Tharoor von der oppositionellen Kongress-Partei. „Weder in der Mythologie noch in der Tradition gab es eine Verfolgung wegen sexueller Abweichung“, so der Parlamentsabgeordnete und Buchautor aus Kerala. Das christliche Konzept, wonach Geschlechtsverkehr nur der Fortpflanzung dienen darf, war in Indien unbekannt – bis die britischen Kolonialherren ihre viktorianische Sexualmoral verordneten. Diese beeinflusste dann 150 Jahre die indische Gesellschaft, in der sich ohnehin viele Traditionen und Religionen gemischt haben.

Tharoor gehört zu den wenigen Politikern, die sich aktiv für die Abschaffung des Paragrafen 377 eingesetzt haben. Die meisten Politiker waren opportunistisch, denn die Wählergruppe der Lesben und Schwulen schien nicht groß genug, um es sich im Zweifelsfall mit konservativen Religionsvertretern zu verscherzen. Zwar wirft Tharoor der regierenden hindunationalistischen BJP vor, sie würde ihre eigene hinduistische Tradition falsch interpretieren.

Bollywood-Star Aamir Khan

„Ein historischer Tag für Menschen, die an gleiche Rechte für alle glauben“

Doch dies ist Wahlkampfgetöse, denn seine eigene Kongress-Partei hat in ihren mehr als 40 Regierungsjahren den Paragrafen 377 auch nicht abgeschafft. „Keine Regierung war bisher besonders hilfreich, deshalb sind wir auch vor Gericht gegangen“, sagt Anjali Gopalan von der Naz-Foundation, die hinter den Kampagnen gegen den Paragrafen 377 steht.

Das Urteil zeigt auch Indiens gesellschaftlichen Wandel, dem die Politik hinterherhinkt. „Dies ist ein historischer Tag für Menschen, die an gleiche Rechte für alle glauben“, twitterte Bollywood-Star Aamir Khan. „Das Gericht hat seine Pflicht getan, nun müssen wir unsere tun.“

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.