Linken-Politikerin über Schulpflicht: „Manche Kinder geben auf“

Die Vorsitzende der Hamburger Linksfraktion, Sabine Boeddinghaus, fordert eine Diskussion über Alternativen zur Schulpflicht.

Erstklässler sitzen in einem Klassenraum und melden sich. Vorne steht die Lehrerin an der Tafel.

Lernen im Klassenraum: Dazu soll es Alternativen geben Foto: dpa

taz: Frau Boeddinghaus, soll die Schulpflicht abgeschafft werden?

Sabine Boeddinghaus: Nein. Aber ich möchte eine Debatte darüber führen, was die Schulpflicht mit der Schule macht.

Warum ist das für Sie ein Thema?

Die Linke kämpft schon lange für eine Schule, die den Bedürfnissen der Kinder gerecht wird. Kinder machen im Alltag oft die Erfahrung, nicht am richtigen Ort zu sein. Es gibt Eltern, die erleben, dass ihre Kinder aufgeben und dort nicht mehr hin wollen. Wir planen die Tagung mit der Initiative „Frei sich bilden“, dort sind betroffene Eltern.

Laut Programm soll auf der Tagung am 28. und 29. September die Öffnung der Schulpflicht diskutiert werden.

Ich möchte, dass die Schulpflicht so geöffnet wird, dass es nicht zu Repressionen kommt, wenn Kinder und ihre Eltern feststellen, dass die Schule nicht der richtige Lernort ist. Ohne dass Kinder psychiatrisiert werden, ohne dass Eltern die Rückmeldung bekommen, in der Erziehung ihrer Kinder versagt zu haben.

Wie sollte der Staat reagieren?

Die Kinder sollten alternative Angebote bekommen, etwa kleine Lerngruppen bei freien Trägern. Die gibt es ja in Hamburg. Nur eben erst, nachdem man einen langen Weg zurückgelegt hat, bis zu der Angst hin, dass das Sorgerecht entzogen wird. Wir haben da gerade einen Fall in Hamburg, wo ein Kind den Eltern weggenommen wurde.

Führt die Art der Durchsetzung der Schulpflicht zu Leid?

61, ist Erziehungswissenschaftlerin, Schulpolitikerin und Vorsitzende der Linksfraktion Hamburg

Sie verstärkt das Leiden. Es ist ja eine Leidensgeschichte, wenn man feststellt, die Schule ist nicht der richtige Ort. Dann können Kinder und Eltern aber nicht sagen: „Gebt uns einen anderen Ort.“ Sondern sie müssen erst mal klein beigeben und sagen: „Ich hab versagt.“ Dann erst gibt es Notlösungen.

Welche Repressalien müssen sie über sich ergehen lassen?

Bußgeldverhängungen, Jugendarrest. Es gibt eben sogar Entzug des Sorgerechts. Da werden Kinder ins Heim gebracht. Das sind Realitäten, die sprechen sich rum. Nun wollen Eltern sich vernetzen und Alternativen diskutieren – deswegen die Tagung.

„Schulpflicht? Schulzwang? Recht auf Bildung!“, 28. und 29. September, Hamburger Rathaus, Kaisersaal

Wie viele Betroffene gibt es?

Von etwa 200 ist offiziell bekannt, dass sie im weiten Feld des Schulabsentismus registriert sind. Es gibt eine bundesweite Vernetzung von diesen Eltern, die sagen: „Wir wollen uns nicht mehr psychiatrisieren lassen, wir wollen uns nicht demütigen lassen.“ Und sie wollen den Spagat zwischen Einhaltung der Schulpflicht, dem Willen ihrer Kinder und gewaltfreier Erziehung ein Stück auflösen. Weil das Eltern krank macht.

Muss die Schulpflicht nicht so hart durchgesetzt werden? Sonst fallen die Kinder, die zu Hause kein so tolles Angebot haben, durchs Raster.

Es ist ein heißes Eisen. Als ich mich das erste Mal mit den Eltern zum Gespräch traf, hatte ich nie hinterfragt, dass wir in Deutschland Schulpflicht haben. Wenn man sich aber in Europa umguckt, ist Deutschland in der Minderheit. Sehr viele Länder wie England, Frankreich und die Schweiz haben eine Bildungspflicht, eben nicht die Schulpflicht. Das heißt: nicht die Pflicht, im Schulgebäude den Ort des Unterrichts zu haben. Man kann auch außerhalb der Schule Lernorte schaffen.

Geht die Schul-Ablehnung von Kindern oder Eltern aus?

Die Eltern, mit denen ich Kontakt habe, sagen, sie haben im guten Glauben ihre Kinder in die Schule geschickt und dann feststellen müssen, dass ihre Kinder aus unterschiedlichsten Gründen krank wurden, bis hin, dass sie sich verweigert haben. Es gibt auch Eltern, die von Anfang an die Haltung haben, ihren Kindern anzubieten, alternativ zu lernen. Das steht aber für mich nicht im Fokus.

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