Die Obsessionen des Patienten

Das Heidelberger Theater eröffnet die Saison mit einem Fall der deutschen Psychiatriegeschichte: „Justizmord des Jakob Mohr“

Von Jürgen Berger

Dass wir heute von den Qualen des Jakob Mohr wissen, verdanken wir dem Umstand, dass er zeichnete und schrieb. Jakob Mohr war ein schillernder und wohl auch gewaltbereiter Mensch. 1905, als der Mannheimer Gärtnersohn zum ersten Mal verhaftet wurde, soll er seinen Vater misshandelt haben. Fünf Jahre später lieferte man ihn in die geschlossene Psychiatrie nahe Heidelberg ein, wo er, so beschrieb er das selbst, mit Mitteln der Folter behandelt wurde. Nachdem er aus der Heil- und Pflegeanstalt Wiesloch entlassen worden war, heiratete er und arbeitete als Kutscher. 1931 trat er in die NSDAP ein, wurde wegen seiner Vorstrafen aber wieder aus der Partei ausgeschlossen und ging nach Paris, wo er er sich links gab und gegen die Nationalsozialisten wetterte.

Sein kreativer Nachlass ist Bestandteil der einzigartigen Sammlung Prinzhorn im Heidelberger Universitätsklinikum. In Mohrs Zeichnungen taucht immer wieder ein Fernhypnotiseur auf, der den Patienten mit einem röntgenologischen Kasten aussaugt. Mohrs Behauptung war: Er sei das Opfer eines „Justizmordes“ und habe in den zurückliegenden Gerichtsverhandlungen unter hypnotischer Fremdbestimmung gestanden. In einer seiner eindrücklichsten Zeichnungen hielt er die Gerichtsszenerie fest, der er sich ausgesetzt sah. Sie ist nun die Vorlage für die deutschsprachige Erstaufführung einer Szenenfolge, mit der das Heidelberger Theater sich dem Fall Mohr widmet.

Für Regie, Bühne und Kostüme verantwortlich ist die Prager Künstlerin Eva Kot’átková, die den Stoff zuerst in Tschechien inszenierte und dort für die Uraufführung als Künstlerpersönlichkeit des Landes ausgezeichnet wurde. In Heidelberg setzt Kot’átková nicht nur auf Schauspieler, sondern auch auf „Menschen mit Psychiatrie-Erfahrung“. Die sind allerdings nur konturlose Statisten in der Aufführung im Gemeindesaal einer Kirche.

Auffälliger ist da schon Thomas Rös­ke, Kunsthistoriker und Leiter der Sammlung Prinzhorn, der als Experte in den Zeugenstand berufen wird und sich mit dem Werk Jakob Mohrs beschäftigt. Röske analysiert nüchtern die Obsessionen des Patienten. Die Passage ist ein Fremdkörper im positiven Sinn, hat man ansonsten doch den Eindruck, die Justizmord-Problematik des Abends werde durch Kot’átkovás opulente Bildfindungen eher verdeckt als bearbeitet.

Die tschechische Künstlerin ist keine Dokumentaristin und würde wohl auch nicht behaupten, sie sei Regisseurin. Ihre szenische Folge ist eher eine Installation, mit der sie das Gerichtsbild nachstellt, das Jakob Mohr 1912 mit Feder und Bleistift zeichnete. Kot’átková kreiert einen surreal-absurden Bilderbogen; mit den sozialen Mechanismen, die der Ausgrenzung von Menschen mit extraordinären Fantasien dienen, beschäftigt sie sich kaum. Und sie liebt eindeutige Rollenverteilungen.

So ist der Schauspieler Marco Al­brecht ein leidender Mohr im Korsett der eigenen Fantasie, die Augen starr tränend, der Körper explosiv gespannt. Krass dagegen gesetzt sind die Täter. Olaf Weißenberg etwa, der aus dem Richter, den man aus Mohrs Zeichnungen kennt, ein feixendes Brüllmonster macht, während Mathias Lamp als Ankläger hektisch zuckt, als sei Alfred Jarrys König Ubu am Werk. Kot’átková setzt derart auf expressive Überwältigung, dass man dem Abend distanziert gegenübersteht und an Gustl Mollath denkt, der 2013 nach sieben Jahren Psychiatrie wieder frei kam. Mollath wurde von seiner Frau der Körperverletzung bezichtigt und wegen einer vermeintlich „wahnhaft psychischen Störung“ ins Bezirkskrankenhaus Bayreuth eingeliefert. Auch da weiß man bis heute nicht, ob eindeutige Täter-Opfer-Zuschreibungen hilfreich sind.