Abtauchen in andere Welten

Langwierige Wege von Künstlern: Die elfte Ausgabe des Dokuarts-Festival präsentiert vom 4. bis 21. Oktober im Zeughauskino 24 neue Dokumentarfilme zur Kunst

Auf der Suche nach einer Empfindung: „Impulso“ porträtiert die Flamenco­tänzerin Rocío Molina Foto: Les Films de La Butte

Von Carolin Weidner

Kickt man dieser Tage eine nicht mehr ganz frische Kastanie über den Gehweg, dann klingt das ein wenig wie jene Rhythmen, die Flamencotänzerin Rocío Molina mit ihren kleinen, aber rasanten Füßen erzeugt. Die Miene bleibt dabei in der Regel ernst, Rocío sagt, es ist nicht der Spaß, der sie immer wieder auf die Bühne zwingt.

Es ist vielmehr eine Suche nach der Empfindung, die sie während ihrer ersten Solotänze überkam und die sie gänzlich transformierte. Ein Moment, der sie sich selbst erkennen ließ, in der sie die eigene Person mit bis dato ungekannter Intensität erfuhr. Diese Suche, verquickt mit dem Adrenalinschub, den Rocío Molina spürt, wenn sie vor ein Publikum tritt, sind das Gemisch. Und es bringt sie nicht auf irgendwelche Bühnen: Emilio Belmontes Film „Impulso“ über die Anfang-dreißig-Jährige eröffnet mit einem Auftritt im Pariser Théâtre National de Chaillot; der Eiffelturm schummelt sich in bald jeden Ausschnitt, fast, als könne er gar nicht anders.

Trotzdem ist Belmontes Porträt der Tänzerin eher ein Hinsteuern auf den großen Auftritt. Es geht ihm, wie Rocío Molina, um die Kulmination auf der Bühne. Aber ihn beschäftigt genauso, wie es überhaupt erst zu ihr kommt. Den ersten Applaus setzt der Regisseur jedenfalls sehr spät: nach der Hälfte von „Impulso“ erhält Rocío die erste öffentliche Anerkennung in Form von Applaus. Eine im Film übertragene Langwierigkeit, die möglicherweise auch für den Weg des Künstlers stehen kann. Und um diesen Weg, diese Genese dreht es sich in gar nicht mal wenigen Filmen des diesjährigen Dokuarts-Festivals, das zwischen dem 4. und 21. Oktober im Zeughauskino stattfinden wird.

Eine Frau, die sich eher selten auf einer Bühne präsentiert und die von einer Öffentlichkeit (hier ist es eine Leserschaft) dennoch, wenn auch mehrheitlich unbewusst, wahrgenommen wird, ist die dänische Übersetzerin Mette Holm. Ihr Schaffen ist eng mit jenem Haruki Murakamis verknüpft: seit zwei Dekaden transferiert sie die Bücher des Japaners ins Dänische. Keine leichte Aufgabe. Die Sätze Murakamis sind häufig mehrdeutig und vage. Das Übersetzen funktioniert nicht nach Parametern, die eine einzig mögliche Antwort erlauben würden.

Für Holm ist die Arbeit eine Reise, auf der sie nicht nur Menschen begleiten, sondern, wie in der japanischen Tradition üblich, auch fantastisch anmutende Wesen. Sind es bei Murakamis Figuren Ratten oder Katzen, stellt Regisseur Nitesh Anjaan Mette Holm eine riesige Kröte zur Seite, die hinter ihr durchs japanische U-Bahn-Netz schleicht.

Bemerkenswert und interessant ist abermals der Blick, den der Film auf seine Protagonistin freigibt: Holm geht in der Erzählung nach und nach als eine auf, der das Ein- und Abtauchen in andere Welten zu einem vollumfänglichen Geschehen gerät. Als junge Frau in Frankreich stößt sie auf eine französische Übersetzung von Yasunari Kawabatas „Die schlafenden Schönen“. Der kurze Roman berichtet von den Ereignissen in einem merkwürdigen Freudenhaus, in welchem junge Frauen der älteren Kundschaft ausschließlich narkotisiert zugeführt werden.

Für Holm eine Art Lektüre, die ihr die Tür zu etwas völlig Neuem aufschließt. Sie geht nach Japan. Lernt Japanisch. Möchte diese Literatur auch für Dänen erfahrbar machen. Gleichwohl umweht Mette Holm selbst etwas Ungreifbares, Enigmatisches. Als sie sich einmal mit dem finnischen Murakami-Übersetzer trifft, meint der, ob ihr denn nicht auch schon mal aufgegangen wäre, dass sie, die Übersetzer, viel mit diesen sonderbaren Murakami-Charakteren gemein hätten – der Grund, weswegen sie ihn überhaupt übersetzen könnten.

Für Holm, aber auch für Rócio Molina, speist sich das eigene Tun aus dem ganz konkreten Wunsch einzudringen, nachzuforschen – ein Antrieb, aus dem heraus wiederum Dokumentarfilme entstehen, die sich Menschen wie Holm und Molina verschreiben. Und es ist ebenso der sichtbare-unsichtbare Motor dieses Festivals, das sich „Festival für Filme zur Kunst“ nennt. Aber es unternimmt noch Schritte darüber hinaus, beispielsweise mittels eines frei zugänglichen, aber anmeldepflichtigen Symposiums am 5. Oktober, das sich mit der „fortschreitenden Formatisierung der Medien- und Kulturlandschaft“ sowie mit „Zukunftsperspektiven eines unformatierten Dokumentarfilms“ auseinandersetzen möchte.

So knöpft sich Sabine Rollberg, Professorin für künstlerische Fernsehformate, etwa den Kultursender Arte vor und fragt nach der sukzessiven Verbannung des freien Dokumentarfilms aus dem öffentlich-rechtlichen Fernsehen. Einem Ort, an dem es künftig kaum mehr flippende Kastanien geben wird. Oder nur noch im Dunkeln.

Vom 4. bis 21. 10. findet das Festival für Filme zur Kunst Dokuarts unter dem Titel „Unformatiert / Beyond Format“ im Zeughauskino, Unter den Linden 2, statt. Eröffnet wird es am 4. 10. um 19.3 0 Uhr mit der Berlinpremiere von „Bergman – a year in a life“. Infos: http://doku-arts.de