Neuer Neuköllner Integrationsbeauftragter: „Wir brauchen positive Erzählungen“

Seit dem Mord an Nidal R. wird über kriminelle Clans geredet. Doch die organisierte Kriminalität sei nicht der Normalfall, sagt Neuköllns Integrationsbeauftragter Jens Rockstedt.

Polizeiwagen vor dem mittlerweile entfernten Wandbild des ermordeten Nidal R. am Tempelhofer Feld, September 2018 Foto: dpa

taz: Herr Rockstedt, nach vielen Medienberichten konnte man zuletzt den Eindruck bekommen, ganz Neukölln sei quasi in der Hand von „arabischen Großfamilien“. Ist das so?

Jens Rockstedt: Nein, das ist übertrieben.

Wenn ich auf der Sonnenallee zu einem arabischen Bäcker gehe – wie groß ist die Wahrscheinlichkeit, dass der Schutzgeld bezahlen muss?

Der Bäcker wird Ihnen sagen, er muss nichts zahlen – vielleicht nur aus Angst. Ich glaube aber schon, dass das an der Tagesordnung ist.

Nidal R. hat als Kind, als Jugendlicher mit kleinen Delikten angefangen und wurde dann zum Intensivtäter. Wie wird eigentlich der Nachwuchs für die „Großfamilien“ rekrutiert, kann man überhaupt von gezielter Rekrutierung sprechen?

Eine Vermutung von mir: Das ist ein Familiending. Die Eltern leben es vor, die Kinder haben Bruder, Cousins, Ältere, die alle dieses Vorbild leben. Sie streben danach, ihren Vorbildern zu folgen und so Anerkennung zu bekommen – und schlagen dann dieselbe kriminelle Karriere ein. Ich glaube, dass das einfach normaler Einfluss von Erziehung oder fehlender Erziehung ist. Das sind ja Werte, die da vermittelt werden – nur eben andere.

Was halten Sie von der Idee, solchen Familien die Kinder wegzunehmen?

Ich halte das für rechtlich schwierig. Wenn der Tatbestand der Kindeswohlgefährdung erfüllt ist, kann man das natürlich machen. Aber das gerichtsfest zu begründen ist nicht leicht.

Was kann der Staat denn dann machen? Wenn es Familien gibt, die niemanden an sich ranlassen?

Wir haben in Neukölln ja eine AG Kinder- und Jugendkriminalität. Und da höre ich schon, dass die in die bekannten Familien reinkommen. Nicht im großen Maßstab, aber immerhin: Es gibt die Möglichkeit, dass man mit den Kindern sozialarbeiterisch tätig wird und versucht, sie aus den kriminellen Strukturen herauszulotsen in eine andere Richtung. Dafür haben wir ein Projekt beim Deutsch-Arabischen Zentrum, das sich mit straffälligen Jugendlichen beschäftigt. Da kommen die Sozialarbeiter tatsächlich an die Kinder und über sie an die Eltern ran – teilweise auch in den bekannten Familien. Im Moment ist der Druck auf die Familien relativ hoch.

50, ist seit Juli Integrationsbeauftragter in Neukölln. Zuvor war er Fachbereichsleiter beim Regio­nalen Sozialen Dienst in Tempelhof-Schöneberg.

Sie meinen, weil polizeilich viel passiert?

Ja, und weil das Geldverdienen darum auch nicht mehr so einfach ist. Bisher war das ja ein Selbstläufer: Man hat sein Geld verdient, ist vielleicht mal eineinhalb Jahre in den Knast gegangen, aber das gehörte dazu. Aber wenn man jetzt Probleme hat, damit sein Geld zu verdienen, sind vielleicht Alternativen denkbar, lassen Eltern ihre Kinder vielleicht eher aus solchen Strukturen raus.

Was macht die AG mit den Kindern konkret?

Die Sozialarbeiter konfrontieren die Kinder mit dem, was sie tun, wie sie in der Schule, auf der Straße auftreten, wie andere sie wahrnehmen. Sie arbeiten mit den Jugendlichen, spiegeln deren Verhalten – und zeigen Alternativen auf.

Ihr Vorgänger hatte die These, dass solche kriminellen Clans auch Ergebnis einer verfehlten Integrationspolitik sind – weil viele Palästinenser, die geduldet waren, über Jahrzehnte gar nicht arbeiten durften.

Ich teile diese Ansicht. Stellen Sie sich die Situation dieser Menschen vor: Sie kommen aus einem Land, Libanon, wo sie meistens staatenlos waren, also staatliche Autorität nicht positiv erlebt haben. Dann kommen sie hierher, erhalten immer nur Duldung, Duldung, Duldung, dürfen die Sprache nicht lernen, nicht arbeiten. Trotzdem haben die Menschen ja Bedürfnisse und Talente und wollen weiterkommen. Und wenn der Staat dieses Weiterkommen systematisch verhindert, durch diese Dauerduldungen und fehlende Arbeitserlaubnis, ist es manchmal verständlich, dass dieser Weg gewählt wurde. Das kann ich durchaus nachvollziehen.

Sind wir an dieser Art von Kriminalität also selbst schuld?

Ach, ich weiß nicht. Meine These ist, dass Kriminalität in einem gewissen Grad Bestandteil einer Gesellschaft ist. Wenn es nicht die Clans wären, die diese Felder bedienen würden, würde es eben jemand anderes tun – vielleicht auch Deutsche. Solange jemand Drogen nimmt, wird es jemanden geben, der sie verkauft. Aber die verfehlte Integrationspolitik der Vergangenheit ist schon schuld daran, dass es jetzt diese Personen sind: weil wir sie immer hoffnungslos gelassen haben. Hinzu kommt: Wenn staatliche Autoritäten nie als solche erlebt und nie respektiert werden, ist es noch leichter, in diese Richtung abzudriften.

Wie meinen Sie das?

Wenn Sie schon in Beirut staatliche Autorität nie als helfend und positiv erlebt haben, immer nur negativ und Ihnen dann der Staat auch hier alles verbietet, was wichtig wäre, um hier anzukommen, dann ist die Sichtweise: Warum soll ich mich an staatliche Regeln halten, wenn ich von diesem Staat nichts bekomme und nichts erwarten darf?

Meine These ist, dass Kriminalität in einem gewissen Grad Bestandteil einer Gesellschaft ist

Was hat die Politik daraus gelernt?

Es hat sich viel geändert, Integrations- und Sprachkurse sind verpflichtend für die Neuen. Und man sieht ja auch, dass es bei ihnen deutlich schneller geht, sich zu integrieren, sprachlich, auf dem Arbeitsmarkt.

Menschen mit sichtbarem Migrationshintergrund machen viele Erfahrungen mit Alltagsrassismus. Lehrkräfte äußern sich rassistisch gegenüber arabischen Schülern, Mädchen mit Kopftuch bekommen keine Lehrstellen … Führt das nicht auch zur Bildung von „Parallelgesellschaften“, wenn man als Deutscher abgelehnt wird?

Das spielt sicher eine Rolle. Ich habe in den drei Monaten, die ich nun in diesem Job bin, viele Gespräche mit Migrantenorganisationen geführt, wo ich Ähnliches gehört habe – wie es im Sommer ja auch in der Özil-Debatte zum Tragen kam. Da kann ich schon nachvollziehen, dass man sich irgendwann wieder zurückzieht und sagt: Die Gesellschaft will mich ja nicht.

Und was kann man dagegen tun?

Es ist wichtig, den anderen zu kennen. Dass „die mit Kopftüchern“ nicht selbstbestimmt seien, „Schwarzköpfe“ immer kriminell – solche Vorurteile kann man nur aus dem Weg räumen, wenn die Leute miteinander reden. Und wenn jetzt viel über kriminelle arabische Großfamilien geredet wird, ist das ja auch nur ein ganz kleiner Ausschnitt aus dieser Gesellschaft, die allermeisten Araber gehören nicht dazu. Aber medial nimmt dieser Ausschnitt 95 Prozent ein. Da kann man als Biodeutscher, bei dem Integration am Dönerstand endet, schon den Eindruck bekommen, das sei alles ganz furchtbar. Man sollte viel mehr positive Geschichten über arabische Familien erzählen.

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