Ultraattraktiv statt reaktiv

In einer spektakulären Partie fügt das englische Team Spanien eine historische Niederlage zu. Trainer Southgate setzt mit seiner offensiven Taktik ein Zeichen

Englische Eleganz: die Ballfertigkeit von Marcus Rashford lässt auch den Gegner staunen Foto: dpa

Aus Sevilla Florian Haupt

Es hatte den ganzen Tag geregnet in Sevilla, die englischen Fans waren also ganz in ihrem Element, und nach dem Schlusspfiff durften sie dann auch endlich ungestört ihre Nationalhymne singen. Vorher war das nicht möglich, die einheimischen Zuschauer pfiffen „God Save the Queen“ bei jeder Gelegenheit aus, wobei nicht ganz klar war, ob wegen des Brexits, einer historischen Sportrivalität oder weil die „lads“ mal wieder zwei Tage lang diese trunkene Aggressivität in eine Innenstadt getragen hatten, unter der die Welt offenbar bis ans Ende aller Zeiten wird leiden müssen. Nun aber waren keine Spanier mehr da, und damit auch keine Zwischentöne bei den Elogen an die Königin. Zu feiern im Namen ihrer Majestät gab es einen historischen Fußball-Sieg.

3:2 in Spanien, das unter dem neuen Trainer Luis Enrique und nach einem 2:1 im Hinspiel wie insbesondere einem 6:0 gegen WM-Finalist Kroatien schon wieder die heißeste Nummer des Kontinents zu sein schien. Drei Tore – so viele hatten die Iberer zuhause noch nie in einem Pflichtspiel kassiert. England brauchte dafür nur eine Halbzeit, in der Mittelstürmer Harry Kane mit seinen intelligenten Bewegungen und Spieleröffnungen die Tore seiner schnellen Angriffskollegen Raheem Sterling (2) und Marcus Rashford einleitete. Für Sterling waren es die ersten Treffer im Nationaltrikot nach über drei Jahren und 30 gespielten Stunden – an einem so wundersamen Abend kann es wohl nur einen Sieger geben, so sehr sich die Spanier auch durch den Alcácer-Effekt zurück in die Partie kämpften. Der unheimliche BVB-Stürmer traf eine Minute nach seiner Einwechslung, sein zehnter Treffer in seinen letzten 277 Minuten, aber danach reichte es nur noch zum späten Anschluss durch Sergio Ramos.

Es war ein spektakuläres Match, das mit großer Verve und vor feurigem Publikum im Stadion des Erstligisten Betis alle Vorzüge der neuen Nations League verdeutlichte. In keiner Sekunde fühlte es sich wie ein Freundschaftsspiel an, und der erste Sieg einer Auswärtsmannschaft auf spanischem Boden in einer offiziellen Partie seit 2003 verlieh so ein ganz besonderes Prestige. Wo sich England bei der WM noch gegen Rivalen wie Kolumbien und Schweden ins Halbfinale mogelte, war hier endlich der ersehnte Sieg gegen einen großen Gegner. „Ein neuer Standard ist gesetzt“, jubelte der Guardian prompt. Beim Blick in die Zukunft müssen die Herzen der Anhänger hüpfen: Der Coup von Sevilla gelang mit der jüngsten englischen Startelf seit 59 Jahren.

Nationaltrainer Gareth Southgate hat seine ikonische Weste der WM abgelegt, aber ist derselbe kluge Trainer geblieben, der Schritt für Schritt eine internationale Spitzenmannschaft formt. Mit dem ultrareaktiven 3-5-2 des Sommers baute er das defensive Fundament, schaffte Sicherheit und Erfolgserlebnisse. Seit dieser Länderspielwoche hat er nun auf 4-3-3 umgestellt und sendet damit ein Zeichen, dass sein England künftig auch gestalten will. Die Spanier guckte er an ihrem wundesten Punkt aus, der weit aufgerückten Verteidigung und deren nicht immer synchronen Anbindung an das Mittelfeld. „Es galt, mit den ersten Pässen ihr Pressing zu überspielen“, erklärte Southgate. War das erledigt, merkte man Ramos, 32, und Sergio Busquets, 30, jedes ihrer Lebensjahre so deutlich an wie selten zuvor.

Die Anhänger können glücklich in die Zukunft schauen. Der Coup gelang mit der jüngsten Startelf seit 59 Jahren

Finden Abwehrchef und Organisator nicht ihr Leistungslimit, fehlt Spanien der Kompass. Die nachfolgende Generation hat zwar Talent, aber nicht immer auch Demut und Wettkampfhärte. Wenn noch dazu das Real-Gerüst von der Krise im Verein gehemmt wirkt und Luis Enrique so exzentrische Einfälle bekommt wie jenen, den überraschend nominierten Linksverteidiger Jonny Otto (Wolverhampton Wanderers) auf rechts einzusetzen, kommt es eben zu einer „sehr schmerzhaften ersten Halbzeit“, wie der Trainer einräumte, der sich mit seiner üblichen Mischung aus Ironie und Arroganz gleichwohl das leidenschaftliche Aufbäumen auf die Fahnen schrieb: „Das Normale wäre gewesen, die Spieler zu töten, aber ich habe sie aufgebaut. Ich war wunderbar.“

Capricen wie jene, aus persönlicher Antipathie auf Linksverteidiger Jordi Alba (Barcelona) zu verzichten, wird man Luis Enrique aber allenfalls dann noch durchgehen lassen, wenn seine Mannschaft die schon sicher geglaubte Qualifikation für das Final Four nicht verspielt.