Dokumentation zum 9. November 1938: Täter, Opfer und Zuschauer

Der Fotograf Michael Ruetz veröffentlicht mit seinem Buch „Pogrom 1938“ eine umfassende Foto- und Textdokumentation.

Grinsende Kinder stehen um einen kaputten Karren herum

Die Zerstörung des jüdischen Totenwagens im hessischen Flörsheim am Rhein Foto: Paul Flesch

Bücher zur sogenannten Reichskristallnacht sind Legion. Wenige Monate, nachdem Synagogen in Brand gesetzt, Geschäfte deutscher Juden verwüstet und geplündert worden waren, veröffentlichte der Schriftsteller Rudolf Frank unter Pseudonym sein Theaterstück „Kraft durch – Feuer. Die Nacht vom 9. November 1938“. Der zeitgenössische Bericht „Nächtlicher Eid“ des Journalisten Konrad Heiden erschien ebenfalls 1939, auf Englisch, Französisch und Schwedisch, unter dem Titel „Eine Nacht im November 1938“ endlich auch auf dem deutschen Buchmarkt – 75 Jahre nach dem historischen Ereignis.

Zum 80. Jahrestag des Pogroms legt nun der renommierte Fotograf Michael Ruetz eine bemerkenswerte Foto- und Textdokumentation zu den reichsweit organisierten Gewalt- und Schandtaten vor. Schon der US-amerikanische Historiker ­Raul Hilberg unterschied zwischen Tätern, Opfern und Zuschauern. Ruetz präsentiert in seinem Buch in unzähligen Fotografien Täter und – besonders erschreckend wie entlarvend – die nur scheinbar unbeteiligten Zuschauer.

Seiner Profession folgend, lenkt Ruetz den Blick, wie es der Untertitel verspricht, auf „das Gesicht in der Menge“. Auf jene, die neugierig und schaulustig auf die lodernden Flammen blickten, keineswegs teilnahmslos, sondern lachend, so hämisch wie schadenfroh, oder sich ganz ungeniert, ohne jegliche moralische Skrupel, an Plünderungen beteiligten. Getreu dem Motto: Wo jemand einen Schaden hat, haben andere den Gewinn.

Umfangreiche Recherchen in mehr als 1.200 Archiven

Dank der umfangreichen Recherchen von Astrid Köppe, die mit mehr als 1.200 Archiven, Gemeinden, Vereinen und Privatpersonen in Kontakt getreten war, versammelt Ruetz’ Veröffentlichung erstaunliche wie bedrückende Fotografien. Auch wenn nicht alle Erstveröffentlichungen sind, bezeugt die Gesamtheit des fotografischen Materials die rege Beteiligung deutscher „Volksgenossen“ an dem Pogrom.

Schon das Titelfoto zeigt die riesigen Rauchwolken der brennenden Synagoge in Siegen. Aber eben nicht nur das weithin sichtbare, brennende Gebäude, das auch im Buch innerhalb einer Fotoserie und im Großformat gezeigt wird, sondern auch die vielen, vielen Zuschauer, zu denen sich auch zwei Köche gesellten.

Ruetz betont in seinem Nachwort, es sei seine Absicht gewesen, „die Bilder in ihre Elemente zu zerlegen: die Visagen der Täter und der Zuschauer sowie die Gesichter der Opfer herauszuvergrößern und sie zum Hauptgegenstand zu machen“. Auch wenn dieses Vorhaben oftmals an der Qualität der Vorlagen scheiterte, liefert das Buch doch eklatante Beispiele der fröhlichen Teilhabe an öffentlicher Diffamierung und organisiertem Zerstörungswerk.

Die Verhaftung jüdischer Männer in Baden-Baden

Beispielhaft sei auf die Verhaftung jüdischer Männer in Baden-Baden hingewiesen, die am helllichten Tag, eskortiert von SS-Männern und Polizisten, durch die menschengesäumten Straßen der Stadt geführt wurden. Was nicht im Bilde festgehalten wurde: die Gewalttätigkeiten, die die Verhafteten erlitten haben. Doch der den Fotos beigefügte Text führt dies auf drastische Weise vor Augen.

Michael Ruetz, Astrid Köppe, Christoph Stölzl:„Pogrom 1938. Das Gesicht in der Menge“. Nimbus Verlag, Wädenswil 2018, 156 S., 29,80 €

Wie überhaupt die das Bildmaterial ergänzenden Augenzeugenberichte, Zeugenaussagen aus späteren Ermittlungsverfahren und Gerichtsverhandlungen dem im Foto festgehaltenen Geschehen eine spezifische Tiefenschärfe verleihen.

Für Ruetz stellt das Pogrom vom November 1938 „einen Landfriedensbruch im ganzen Land“ dar. Auch wenn in Deutschland zum damaligen Zeitpunkt nichts mehr in Ordnung war, die gewalttätigen Ausschreitungen entlarvten die Fadenscheinigkeit des vermeintlichen öffentlichen Friedens. Juden waren längst zu Bürgern zweiter Klasse degradiert worden. Gewalttaten des Pogroms wurden nicht mehr strafrechtlich verfolgt.

Die gewalttätigen Ausschreitungen entlarvten die Fadenscheinigkeit des vermeintlichen öffentlichen Friedens

Das Pogromgeschehen war keineswegs auf die großen Städte begrenzt; es fand, wie Ruetz ausdrücklich betont, „in etwa 2.000 Ortschaften statt, also überall in Deutschland, auch im kleinsten Kaff“. Ein alphabetisches Ortsverzeichnis (mit der Herkunft der Berichte und Fotografien) und die nebenstehende Karte ersetzen das klassische Inhaltsverzeichnis.

Die Übersicht visualisiert, wo überall Brandstiftungen, Plünderungen und Verhaftungen stattfanden. Allerdings vermittelt die Karte den falschen Eindruck, als hätte das Pogrom in Norddeutschland gar nicht stattgefunden. Dabei existieren auch für Hamburg, Kiel und Lübeck nicht minder bedrückende Fotografien.

Doch will dieser Hinweis die Verdienste dieses Buches, das Ruetz ausdrücklich als Gemeinschaftsarbeit charakterisiert, nicht schmälern. Es belegt in vielfacher Weise, was 1938 vor aller Augen geschah, was menschenmöglich, was in Deutschland möglich war.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.