Ex-NRW-Finanzminister über Steuern: „Die SPD zeigt zu wenig Haltung“

Norbert Walter-Borjans will, dass die Sozialdemokraten mehr für Steuergerechtigkeit tun. Whistleblower sollen helfen, Betrug und Skandale zu verhindern.

Norbert Walter-Borjans hält sich eine CD vors Gesicht

Mit Daten-CD gegen illegale Steuerschlupflöcher: Ex-NRW-Finanzminister Norbert Walter-Borjans (SPD) Foto: reuters

Die Legende, dass auch Normaleinkommen vom Spitzensteuersatz betroffen wären, ist nicht totzukriegen. Wie kommt das?

Norbert Walter-Borjans: Es hilft ja jemandem – den Reichen in diesem Land. Wenn ich den Eindruck erzeuge, der Spitzensteuersatz träfe Menschen wie Sie und mich in voller Höhe, dann bekommt man auch schneller eine Mehrheit zusammen, diesen Spitzensteuersatz zu senken – auch wenn das den allermeisten gar nichts bringt. Die wirklich vom Spitzensteuersatz in größerem Umfang Betroffenen sind nur eine sehr kleine Minderheit. Mehrheiten kann man aber nur organisieren, wenn man der Gesamtgesellschaft suggeriert: „Eigentlich trifft es fast jeden.“

Wer suggeriert das?

Auf Lobbyebene versuchen der Bund der Steuerzahler oder die Initiative soziale Marktwirtschaft massiv, den Eindruck zu erwecken, der Durchschnittsverdiener werde fast so behandelt wie ein Millionär. Daraus leitet man dann Forderungen ab, wie den Spitzensteuersatz zu senken und den Soli auch für die Reichen abzuschaffen. Das hilft aber nur der Oberschicht. Das Institut der Deutschen Wirtschaft schrieb einmal, jeder elfte Arbeitnehmer sei vom Spitzensteuersatz betroffen, weil er mehr als 54.949 Euro im Jahr verdient. Wer 54.950 Euro verdient, zahlt den Satz aber nur auf einen Euro. Das wird aber nicht erwähnt. In fast allen Medien heißt es dann, jeder Elfte zahle 42 Prozent. Dadurch entsteht ein öffentlicher Druck, der viel entscheidender ist als direkter Lobbyismus.

Wie viel muss man hierzulande eigentlich verdienen, damit man den Spitzensteuersatz aufs gesamte Einkommen zahlt?

In Wahrheit ist der Spitzensteuersatz ja nicht 42, sondern 45 Prozent und gilt erst für den Teil eines Single-Einkommens oberhalb von 260.000 Euro. 45 Prozent auf alles werden nie erreicht, weil für die erste Viertelmillion weniger als 39 Prozent fällig werden. Auch die gern als Spitzensteuersatz bezeichneten 42 Prozent ab rund 55.000 Jahreseinkommen eines Single gelten erst vom 55.001sten Euro an. Effektiv ist der Steuersatz bezogen aufs gesamte Einkommen bis dahin gerade einmal knapp 28 Prozent inklusive Solidaritätszuschlag. Auf 42 Prozent vom Gesamteinkommen kommt ein Single deshalb erst ab circa 600.000 Euro im Jahr – Verheiratete ab 1,2 Millionen!

Allerdings wird die Legende des Spitzensteuersatz zahlenden Facharbeiters auch in der Politik wiederholt – zum Beispiel in Ihrer Partei, der SPD.

Die allermeisten Nicht-Finanzpolitiker glauben im Zweifel selbst an diese Bluffs, weil sie dem Thema Steuern lieber aus dem Weg gehen. Wenn man sich nicht sattelfest fühlt, spricht man natürlich auch lieber nicht die Missstände im Steuersystem an.

Norbert Walter-Borjans (SPD) war von 2010 bis 2017 NRW-Finanzminister. Unter Ministerpräsident Johannes Rau war der Sohn eines Schreiners und einer Schneiderin in den 1990ern außerdem Sprecher der Landesregierung. Vor wenigen Wochen erschien sein Buch „Steuern – Der große Bluff“ bei Kiepenheuer & Witsch.

Gerade erst haben Kollegen mit einer großangelegten Recherche neue Details zum Cum-Ex-Skandal um erschlichene Steuererstattungen aufgedeckt. Ein großer öffentlicher Aufschrei folgte nicht. Ist das Thema Steuerhinterziehung nicht interessant genug?

Ich teile diesen Eindruck nicht. Die Berichterstattung war breit, das Fernsehen hat berichtet. Für mich war es dennoch lange schwierig, das Problem mit der Steuerkriminalität in die Medien zu bringen. Ein TV-Redakteur hat einmal gesagt, es fehlten Bilder von den Opfern der Steuerhinterziehung. Das Problem ist: Wir alle sind Opfer. Aber es gibt halt keine spektakulären Bilder, wie bei einem Banküberfall oder einer Naturkatastrophe. Man muss das Thema greifbar machen. Die Steuer-CDs, die während meiner Amtszeit trotz Kritik angekauft wurden, haben dabei sehr geholfen.

Die Datenträger haben großflächige Steuerhinterziehung in der Schweiz sichtbar gemacht. Aber Sie schreiben in ihrem Buch selbst, die CDs seien nicht der wichtigste Teil ihrer Steuerfahndungsstrategie gewesen. War das Ganze dann nur eine symbolische Aktion?

Der Großteil der Steuerfahndung läuft in der Tat weniger spektakulär ab, aber der Ankauf der CDs ging über Symbolik weit hinaus. Die Gefahr erwischt zu werden wurde größer, das hat zu Selbstanzeigen geführt. Und wir konnten Banken nachweisen, dass sie aktiv Beratung zur Steuerhinterziehung betrieben haben. Es gab Hausdurchsuchungen, mit denen wir an weitere Materialien gekommen sind. Auch zum Thema Cum Ex konnten wir viel in Erfahrung bringen und die Lücke wurde dann ja auch schnell gestopft.

Wie kann so etwas wie Cum Ex künftig verhindert werden?

Es gibt rücksichtslose Banker, die weiter jede Lücke suchen und nutzen werden. Das ist ein endloser Kampf. Um da mitzuhalten, braucht man Informationen aus der Szene. Man weiß ja, dass dort jeder sofort aussortiert wird, der moralische Bedenken hat – und an diese Leute muss man rankommen. Ohne Whistleblower kommt man nicht hinter die neuesten Tricks.

In Nordrhein-Westfalen kam die Schwerpunktsetzung gut an. Warum setzt Ihre Partei im Bund nicht stärker auf das Thema Steuern?

Die Frage stelle ich mir auch. Ich glaube, dass diejenigen, die nicht tief im Thema sind, Angst haben, in einer Talkshow mit jemandem wie dem Chef des Bundes der Steuerzahler, Reiner Holznagel, aufgerieben zu werden.

Wieso sollte man dann als Wähler eine Partei wählen, deren Vertreter offenkundig Lobbyisten nicht gewachsen sind?

Die SPD will in Sachen Steuergerechtigkeit mehr. Aber wir zeigen in dieser Frage aus Angst vor der eigenen Courage zu wenig Haltung. Wer den irreführenden Zahlenspielen der Geldlobby nicht auf den Grund geht, der kann keine Haltung entwickeln.

Aber der aktuelle Bundesfinanzminister wird von der SPD gestellt, und Olaf Scholz gilt als profilierter Finanzpolitiker. Wieso stellt er das Thema Steuergerechtigkeit nicht stärker in den Mittelpunkt?

Das tut er ja – zum Beispiel bei der Initiative für eine internationale Mindestbesteuerung für Unternehmen, die er gemeinsam mit Frankreich ergriffen hat.

Dabei geht es vor allem um Internetkonzerne wie Facebook und Google. Was könnte man sonst noch gegen deren Steuertricks tun?

Man könnte den Umsatz mit Daten besteuern und nicht den Gewinn. Das würde verhindern, dass Konzerne den Gewinn über Lizenzhandel in andere Länder verschieben. Aber dafür müssen Unternehmen erst einmal dazu verpflichtet werden mitzuteilen, wo die Umsätze erwirtschaftet werden – also das so genannte Country-By-Country-Reporting.

Das Ankaufen sogenannter Steuer-CDs mit Bankdaten mutmaßlicher Steuerbetrüger hat dem deutschen Staat in den vergangenen Jahren Mehreinnahmen von 6 Milliarden Euro beschert. Vor allem die frühere rot-grüne Regierung in NRW hat Daten gekauft.

Zu Beginn war diese Maßnahme umstritten – denn das Beweismaterial wurde gestohlen. 2010 stellte das Bundesverfassungsgericht klar: Der Fiskus darf mit illegal beschafften Daten ermitteln. Bundesweit haben sich laut NRW-Finanzministerium zwischen 2010 und 2016 rund 120.000 Steuerbetrüger selbst angezeigt.

Bei dem Olaf Scholz übrigens in der EU auf die Bremse drückt.

Die Bundesregierung sollte in dieser Frage ihre Haltung ändern.

Die von Ihnen kritisierte Senkung des Spitzensteuersatzes ist von der rot-grünen Bundesregierung beschlossen worden. Wie kann die SPD nun glaubwürdig für höhere Steuern für Reiche einstehen?

Es ist fast schon ein Hohn, dass wir diejenigen waren, die den Spitzensteuersatz damals abgesenkt und die Vermögenssteuer nicht wieder aktiviert haben. Aber diese Entscheidungen müssen in einem bestimmten zeitlichen Kontext bewertet werden. Wir waren der kranke Mann Europas und man versuchte dann halt, an allen möglichen Schrauben zu drehen. Aber wir haben jetzt keine fünf Millionen Arbeitslosen mehr. Da kann man die eigene Haltung auch überdenken. Und ja: Ich glaube, wenn wir uns in diesem Bereich klarer positionieren würden, könnte man damit Glaubwürdigkeit in Fragen sozialer Gerechtigkeit zurückgewinnen – das ist bisher leider kaum passiert.

Sie entfalten in Ihrem neuen Buch konkrete Konzepte, nicht nur zur Besteuerung von Internetkonzernen, sondern auch zur Einkommens- und Mehrwertsteuer. Das klingt nicht nach jemandem, der im Ruhestand ist. Planen Sie ein politisches Comeback?

Ich bin jetzt 66 Jahre alt. Ich habe zwar eine ganze Menge Erfahrung und hoffe, dass die auch in unsere Parteipositionen einfließen. Mein Wunsch wäre, das Wissen an jüngere Politiker weiterzugeben, die sich für Finanzthemen interessieren.

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